Von der Altenarbeit über die Bahnhofsmission, Flüchtlings- und Hausaufgabenhilfe bis hin zur Sterbebegleitung und Wohnungslosenhilfe – in diesen und vielen weiteren Bereichen der diakonischen Arbeit engagieren sich Menschen zusätzlich zu Schule und Beruf, Haushalt und Familie. Ein Bereich, der auch auf die Unterstützung durch engagierte Menschen angewiesen ist, ist die Arbeit der Tafel. Mit ihnen werden armutsbetroffene Menschen durch Lebensmittelspenden entlastet. Wir haben mit Anna Conrad, Leiterin der Tafeln in Stadt und Landkreis Gießen von der Regionalen Diakonie Gießen, über ihre Arbeit, die Einsatzfelder für Freiwillige in der Tafel und was das Engagement so besonders macht gesprochen.
Frau Conrad, Sie arbeiten schon seit 16 Jahren hauptberuflich für die Tafel bei der Regionalen Diakonie Gießen. Beschreiben Sie bitte kurz, wie man sich die Arbeit bei der Tafel vorstellen kann?
Tafelarbeit ist grundsätzlich die Arbeit von Freiwilligen. Die Regionale Diakonie Gießen gibt mit ihren hauptamtlichen Freiwilligenkoordinator*innen den Rahmen vor: wir kümmern uns um die Freiwilligen und schauen, ob alles gut läuft und die gesetzlichen Vorgaben erfüllt werden. Die Tafelarbeit finanziert sich komplett über Spenden und freiwilligen Einsatz, selbst die Fixkosten wie die Miete für die Ausgabestellen sind spendenfinanziert. Wir sind jeden Tag vor Ort, begrüßen die Freiwilligen, führen die Einstellungs- und Verabschiedungsgespräche. Am Ende muss die Tafel funktionieren und die Freiwilligen müssen arbeitsfähig und gut ausgestattet sein. Dafür sind wir da.
Wie können sich Freiwillige bei Ihnen einbringen?
Bei der Tafel in Gießen und in der Region ist eigentlich für jeden etwas dabei. Wir haben zum einen den klassischen Fahrdienst, der die Lebensmittel bei den spendenden Firmen abholt und zu den Ausgabestellen fährt. Wir brauchen Engagierte, die die Lebensmittel sortieren und ausgeben. Wir haben auch ein ehrenamtlich geführtes Büro, wo die Menschen, die das Angebot der Tafel nutzen, sich anmelden und die Bedürftigkeit nachweisen. Dann gibt es Engagierte, die den ganzen Tag da sind und sich um das Be- und Entladen und die Entsorgung der Waren kümmern. Hier sind häufig selbst Nutzende des Tafelangebots im Einsatz. Auch gibt es Freiwillige, die sortierte Tafelkisten zu den Bedürftigen nach Hause bringen, wenn sie nicht mehr selbst zur Tafel kommen können. Außerdem gibt es für jedes Team Gruppenleitende, ein ehrenamtliches Fundraising-Team und ein Social Media-Team mit jungen Menschen, die unsere Social Media-Kanäle bespielen.
Bei Ihnen gibt es auch Einsatzgebiete, die sich von der klassischen Tafelarbeit unterscheiden. Wie kann man sich bei Ihnen außerdem einbringen?
Bei uns gibt es zum Beispiel eine „Tafel-Jugend“. Das sind Aktive unter 35 Jahren, die zum einen die klassischen Aufgaben unterstützen zum anderen bringen sie sich oft in unseren Zusatzaktionen ein, wie unseren Infoständen bei Volksfesten, über die wir weitere Spenden einnehmen. Eine weitere besondere Engagement-Gruppe ist unser Team „Kinder in Aktion“. Sie unterstützen Aktionen zugunsten der Kinder unserer Tafelnutzenden. So organisieren und begleiten sie Tafelkinder zum Beispiel bei einem Schwimmkurs, den wir in den Ferien für sie organisieren. Oder sie betreuen unsere Weihnachtsaktion, über die Tafelkinder Weihnachtswünsche erfüllt bekommen. Wir haben auch Schulstart-Aktionen, damit die Kinder unserer Tafelnutzenden gut ausgestattet ins neue Schuljahr gehen können. Alle können sich so einbringen, wie er oder sie das möchte und kann. Wir haben gerade eine neue Tafelausgabestelle umgebaut; Bauleiterin war eine freiwillig engagierte Architektin.
Wer engagiert sich bei Ihren Tafeln?
Unter unseren 316 Freiwilligen sind 56 unter 35-Jährige. Das ist viel. Die Älteste ist 91. Sie hört jetzt leider auf, auch wenn sie eigentlich gar nicht will, aber es ist körperlich für sie zu anstrengend geworden. Die Bandbreite des Engagements ist groß, so dass wir für jeden, der sich engagieren will auch ein Einsatzfeld finden. Man hat auch nicht die Verpflichtung jede Woche zu kommen. Wir haben mittlerweile auch einige Berufstätige, die mobil arbeiten, und sich ihre Arbeitszeit entsprechend einrichten.
Wie gewinnen Sie neue Freiwillige? Haben Sie einen Geheimtipp?
Vieles läuft tatsächlich über Mundpropaganda. Besonders effektiv sind auch noch immer Zeitungsartikel. Auf einen Artikel „Fahrer gesucht“, haben sich bei uns 85 Leute gemeldet. Es gibt auch viele Firmen, die soziales Engagement über Social Days oder Social Weeks ermöglichen. Dies ist eine wertvolle Entlastung, insbesondere in Zeiten, wenn viele Ehrenamtliche im Urlaub sind.
Was hat man davon, sich zu engagieren?
Wer sich bei der Tafel engagiert, bekämpft Lebensmittelverschwendung. Wir schaffen ein Gleichgewicht von Mangel und Überfluss. Manche suchen nach der Familienzeit eine neue Aufgabe, andere wollen sich nach einer längeren beruflichen Auszeit – sei es durch Krankheit oder Familie – wieder in einen geregelten Ablauf einfinden. In Gießen sind auch viele Studierende dabei; sie lernen so die Stadt und ihre Menschen besser kennen. Die Erfahrung zeigt, dass wer die ersten zwei Jahre geschafft hat, mindestens 6 Jahre dabeibleibt. Es gibt einige bei uns, die sich schon 20 Jahre engagieren.
Was ist das Besondere an der Arbeit bei der Tafel?
Ein freiwilliges Engagement ist wie ein bunter Blumenstrauß und darf damit auch mal Dornen haben und trotzdem schön sein. Da die Tafelarbeit eine Aufgabe ist, die ein hohes Maß an Beteiligung bietet und auch fordert, ist sie für viele interessant. Dieses Prinzip der Eigenständigkeit leben wir auch.
Bei uns gibt es keinerlei Einschränkung hinsichtlich Religion oder Bildung. Alle, die sich bei uns einbringen, sind gleich wichtig. Nur mit allen zusammen funktioniert es. Wir haben eine Vision und Grundsätze und damit muss man einher gehen. Wenn das für einen passt, habe ich immer wieder den Eindruck gewonnen, dass die Arbeit den Freiwilligen wohl einfach Spaß macht.
Infokasten
In ganz Deutschland gibt es über 970 Tafeln, davon 58 Tafeln in Hessen und 65 in Rheinland-Pfalz 65. Davon gehören 21 Tafeln mit insgesamt 48 Ausgabestellen zur Diakonie Hessen. Tafeln sind nur durch großes freiwilliges Engagement möglich. Anna Conrad (37) von der Regionalen Diakonie Gießen ist Leiterin der Tafel Gießen und Bereichsleiterin der zugehörigen Tafeln in Grünberg und Hungen. Sie verantwortet damit 10 Ausgabestellen. Darunter die Hauptausgabestelle in Gießen, die jeden Wochentag geöffnet ist. Insgesamt nutzen 5.600 Menschen, davon allein 4.800 Menschen in Gießen, sowie etwa 1.700 Kinder unter 14 Jahren das Angebot der Tafel Gießen sowie der Tafeln im Landkreis Gießen. Seit 21 Jahren ist Anna Conrad schon im Dienst der Regionalen Diakonie Gießen, ab 2008 zunächst als Freiwilligenkoordinatorin für die Tafel Gießen; seit 2022 verantwortet sie als Bereichsleiterin alle Tafeln im Kreis Gießen.