Andacht von Pfarrerin Andrea Thiemann, Referentin für Jugendhilfe und Kinderschutz, Ansprech- und Meldestelle für Fälle sexualisierter Gewalt
Die lang ersehnte, längst überfällige und mit Bangen erwartete ForuM-Studie ist erschienen. Ihr sperriger Titel lautet: „Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und anderer Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“. Fast 900 Seiten Papier liegen vor uns. Wie kann ich mich diesen Inhalten nähern, ohne den Glauben zu verlieren? Den Glauben an Gott, an das Gute im Menschen, an die Gemeinschaft derer, die von sich sagen, im Namen Gottes unterwegs zu sein…?
Bilder müssen korrigiert, Blickwinkel verändert werden.
Sperrig ist auch dieses Gemälde von Jackson Pollock.
- Wir stehen vor einem Netz sich gegenseitig durchdringender Muster.
- Weiße Linien durchziehen das Bild wie Strategien, die sich ihren Weg suchen. In sich verschlungen nehmen sie immer wieder neue Wendungen. Sie zu deuten, sie zu entlarven fällt schwer.
- Im großen Durcheinander stechen gelbe Flecken ins Auge. Zahlreich sind sie und nicht zu übersehen. Grell signalisieren sie Gefahr, offenbaren ihre Not.
- Nur wenige blaue Stellen lassen sich finden - ein Stück Himmel, der durchscheint. Helfende Ankerpunkte sind rar.
- Wo gelb und blau zueinander finden, zeugt grün von neuem Leben.
Statt sie zu unterstützen, haben wir es Betroffenen schwer gemacht, mit ihrer Stimme durchzudringen. Das muss sich ändern, am besten sofort!
Wir hören die Worte einer jungen Frau aus der Studie (S. 431). Sie sagt:
„Ich fühlte mich auch sehr geehrt. Davon, dass der Herr Pfarrer mich ins Vertrauen zog. Darüber, dass ich so wichtig für ihn war, dass er sein Herz bei mir ausschüttete, dass er so offen mit mir sprach – über Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich habe ihn reden lassen. War die gute Zuhörerin und Freundin (…). Der Pfarrer der Gemeinde – ein Vorbild und hohe Person – hatte mir seine Sorgen und innersten Geheimnisse und Probleme anvertraut. Etwas, das ihn Mut gekostet haben musste. Und ich war es wert, dass er diese Geschichte mit mir teilte. Kein Mensch hatte vorher so offen mit mir über seine Sexualität und seine Probleme gesprochen.“
Perfide nutzte dieser Pfarrer das Vertrauen und die Loyalität einer Minderjährigen aus. Weil sie sich von diesem machtvollen Mann geehrt fühlte, konnte sie noch nicht einmal um Hilfe rufen! Gewalt beginnt bereits dort, wo eine mächtige Position zum Durchsetzen eigener Interessen missbraucht wird.
Die prophetische Tradition des Alten Testaments deckt Machtmissbrauch diverser Könige auf. In den Psalmen werden Gewalt, Hinterlist und Verfolgung Gott ganz direkt, auf persönlicher Ebene geklagt.
Bitten wir meine Freundin, die Beterin von Psalm 140 (BigS), für all diejenigen zu sprechen, die immer noch in den Netzen perfider Verfolger gefangen sind:
Ps 140,2 Errette mich, Lebendige, vor bösen Menschen,
behüte mich vor gewalttätigen Menschen,
3 die Böses im Herzen ersinnen, (täglich Krieg anzetteln).
4 Sie schärfen ihre Zunge wie eine Schlange,
Natterngift ist unter ihren Lippen.
Durch scheinbar zufällige Berührungen – am unteren Rücken, an der Brust - körperliche Nähe suchend, werden Situationen vernebelt, nach und nach Grenzen verschoben…
Wir hören eine andere junge Frau aus der Studie (S. 432):
„Und es hat sich nie gut angefühlt, aber ich hätte das anfangs überhaupt nicht in Worte fassen können, was nicht stimmt und was der von mir will im ersten Moment, weil in mir hat’s auch erstmal nichts ausgelöst. Und das fing auch, denke ich, harmlos an, so bei Begrüßungsumarmungen oder Küssen auf die Backe so, auf die Wange (lacht), da ist ja erstmal auch nichts gegen einzuwenden.“
Nein, lassen wir uns nicht ins Bockshorn jagen, in asymmetrischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen ist grundsätzlich etwas gegen Körperkontakt einzuwenden! Immer gilt dort das Abstinenzgebot!
Die Psalmbeterin nennt diese Menschen, die sich darüber hinwegsetzen, zu Recht gewissenlos, niederträchtig, skrupellos und gewalttätig, weil sie Böses im Schilde führen:
Ps 140,5 Bewahre mich, Lebendige, vor den Händen der Ruchlosen,
behüte mich vor gewalttätigen Menschen,
die planen, mich zu Fall zu bringen.
Verletzungen in der Vergangenheit bleiben reale Gegenwart.
Aufklärung kann helfen - Abwehr hindert.
Der Weg durch die Institutionen mit seinen verworrenen, abschreckenden Strukturen ist häufig leider immer noch beschwerlich…
Die Praxis des Schweigens wirkt fort bis in die 2020er Jahre.
Eine junge Frau erzählt (S. 457)
„Und vor allen Dingen, dann kam ein Satz, den ich dann noch mehrmals in anderen Kontexten hörte, man müsse doch verschwiegen und diskret mit dem Thema umgehen. Verschwiegen und diskret. Das muss ich hier nicht auf die Goldwaage legen, verschweigen heißt vertuschen, und diskret sein heißt, Betroffene, haltet am besten die Klappe, das schadet auch euch, wenn ihr drüber redet“
Was muss noch alles passieren, damit wir das Vertrauen finden, Betroffenen zu glauben? Was muss noch alles passieren, damit wir endlich mutig aufklären? Wann finden wir die Sprache, die nötig ist, damit Betroffene nicht mehr an uns zweifeln, verzweifeln an ihrem Umfeld, an Strukturen und Menschen in Kirche und Diakonie?
An Gott und ihrem Glauben?
Die Psalmbeterin betet auch für uns, die wir uns immer wieder einschüchtern und auf falsche Fährten locken lassen:
6 Hochmütige verbergen Schlingen und Seile vor mir.
Ein Netz spannen sie für mich aus neben dem Pfad,
Fallen haben sie mir gestellt.
7 Ich sprach zur Lebendigen: Du bist mein Gott!
Höre, Lebendige, die Stimme meines Flehens!
Ein letzter Blick zurück auf das Gemälde von Jackson Pollock:
Die gelben Flecken sind allgegenwärtig - und auch die schwarzen Abgründe!
Es ist ein guter Schritt, wenn unsere Bereitschaft wächst, das ganze Bild zu sehen!
Amen.
Diese Andacht wurde am 5. Februar 2024 im Jour fixe der Mitarbeitenden des Landesverbands gehalten.