Andacht von Pfarrerin Andrea Thiemann, Theologische Referentin für Jugendhilfe und Kinderschutz
Nicht immer finden wir Worte für das, was uns bewegt. Wenn wir uns im Gebet sprachlos fühlen, gibt uns das Vaterunser die Worte, die der Jude Jesus uns zu beten gelehrt hat. Viel älter sind die Gebete, die wir in den alttestamentlichen Psalmen finden. Psalmen zu lesen und zu singen gehört bis heute zum Gottesdienst der jüdischen Gemeinde. Seit den frühesten Zeiten der Kirche sind Psalmen auch fester Bestandteil des christlichen Gottesdienstes. Christ*innen und Jüd*innen beten so mit gleichen Psalmworten und bringen Lob und Dank, Klage und Bitte vor Gott.
Im 12. Psalm habe ich einen Vers (6) gefunden, der sich eng mit dem verbindet, womit ich mich in den ersten Wochen hier in der Diakonie beschäftigt habe: Aufstehen gegen Gewalt: jetzt!
In Vers 6 nimmt Gott selbst Stellung dazu:
»Weil die Elenden Gewalt leiden und die Armen seufzen,
will ich jetzt aufstehen«, spricht der HERR,
»ich will Hilfe schaffen dem, der sich danach sehnt.«
Am 09. November 2022 hat die Mitgliederversammlung der Diakonie Hessen die Richtlinie zum Schutz vor sexualisierter Gewalt beschlossen. Es ist eine umfassende Selbstverpflichtung gegenüber uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen, aber auch gegenüber erwachsenen Schutzbefohlenen, oder anders formuliert, gegenüber Erwachsenen in Abhängigkeitsverhältnissen. Auch wir, die wir in der Geschäftsstellen in Kassel und Frankfurt arbeiten, befinden uns in solchen Abhängigkeitsverhältnissen. Das heißt, auch wir haben eine Verantwortung für die Integrität unserer Kolleginnen und Kollegen.
Gewalt hat viele Formen, darum umfasst die Richtlinie auch die Gebote zu Achtsamkeit, Respekt, Abstand und Wahrung persönlicher Grenzen. Zu erstellende Schutzkonzepte mit Risikoanalyse, Fortbildungsbedarfen, Verhaltenskodex und Anlaufstellen sollen helfen zur Prävention, Intervention und Aufklärung bzw. Aufarbeitung. Dahinter steht eine Haltung, über die wir uns gemeinsam verständigen müssen. Denn „institutionelle Schutzkonzepte (…) sind ein Zusammenspiel aus Analyse, strukturellen Veränderungen, Vereinbarungen und Kommunikation sowie Haltung und Kultur einer Organisation“. Das ist also nichts, was sich „mal eben“ in wenigen Wochen formulieren ließe!
Der Umgang mit dem Thema Gewalt lässt sich nicht managen. Es bringt also gar nichts, wenn von wenigen die formalen Anforderungen erfüllt und Konzepte „über den Zaun“ geworfen werden. Auf einer Tagung mit der, bei der EKHN neu eingerichteten, „Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt“, die direkt beim Kirchenpräsidenten angesiedelt ist, sagte Volker Jung letzte Woche: „Der Mensch steht bei uns im Mittelpunkt. Seine individuellen Bedürfnisse stehen über dem Interesse der Institution!“
Starke Worte, persönlich gesprochen und genauso gemeint!
Ich habe dahinter keine Angst vor Beschädigung der Institution Kirche gehört!
Um seinen Mitarbeitenden der Fachstelle und uns Vertreterinnen der Diakonie Hessen diese Haltung der EKHN rüberzubringen, hat er viele Stunden Reisezeit investiert. Und das ist vermutlich noch das Wenigste, was er machen kann. Dahinter stehen für mich die Grundfragen unseres Glaubens. Kirche und Diakonie sind unbedingt parteiisch. Das haben wir letzten Monat hier auch von Philipp Funke gehört. Wir setzen uns ein für die Menschen, die im Elend sind, die Gewalt erleiden, nach Hilfe rufen und ihr Recht verlangen. Wir schützen unsere Institutionen, gerade indem wir in diesem Sinne voran gehen, offen und transparent handeln. Dann brauchen wir auch keine Angst vor Öffentlichkeit zu haben!
Psalm 12 ist ein Klagepsalm über die Macht der Bösen. Er ist aber auch die Versicherung, dass Gott auf der Seite, der unter Gewalten leidenden steht.
Zum Abschluss bete ich den Psalm in vollem Wortlaut.
1 Ein Psalm Davids, vorzusingen, auf acht Saiten.
2 Hilf, HERR! Die Heiligen haben abgenommen, und treu sind wenige unter den Menschenkindern. 3 Einer redet mit dem andern Lug und Trug, sie heucheln und reden aus zwiespältigem Herzen.
4 Der HERR wolle ausrotten alle Heuchelei und die Zunge, die hoffärtig redet, 5 die da sagen: »Durch unsere Zunge sind wir mächtig, uns gebührt zu reden! Wer ist unser Herr?«
6 »Weil die Elenden Gewalt leiden und die Armen seufzen,
will ich jetzt aufstehen«, spricht der HERR,
»ich will Hilfe schaffen dem, der sich danach sehnt.«
7 Die Worte des HERRN sind lauter wie Silber, im Tiegel geschmolzen, geläutert siebenmal.
8 Du, HERR, wollest sie bewahren und uns behüten vor diesem Geschlecht ewiglich!
9 Denn Frevler gehen allenthalben einher, wo Gemeinheit herrscht unter den Menschenkindern. Amen.
Frankfurt, den