Andacht von Joachim Sylla, Vertreter der Diakonie Hessen im evangelischen Büro am Sitz der Landesregierung in Wiesbaden
Alles auf der Erde unterliegt der Schwerkraft. Das physikalische Gesetz beschreibt, dass alle Körper in Richtung Erdmittelpunkt streben, also irgendwann „nach unten fallen“. Und dann liegen sie auf dem Boden der Tatsachen.
Auch in Kirche und Diakonie habe ich bislang keine Person getroffen, die ernsthaft am Gesetz der Schwerkraft zweifelt. Das Problem ist nur: Behandeln wir nicht auch unsere Strukturen mitunter so, als würden sie dem Gesetz der Schwerkraft unterliegen? Was wäre, wenn wir uns nicht gefangen nehmen ließen von vermeintlich unverrückbaren Gesetzmäßigkeiten? Weil wir so fixiert sind auf das, was nicht mehr geht, wird der Kopf nicht frei für das Mögliche.
Was wäre also, wenn wir dem Credo folgen würden: „Es ist unmöglich die Schwerkraft zu ignorieren. Bis du beginnst, es zu versuchen“ Das ist zumindest das Motto einer Berliner Unternehmensberatung mit dem Namen „Ignore Gravity“, dass Unternehmen und Organisationen durch Transformationsprozesse begleitet.
Die gestandene Referentin oder Sozialarbeiter wird jetzt sicherlich bedenklich das Haupt schütteln – und vor unrealistischen Träumereien warnen. Und da haben sie sicherlich nicht unrecht. Aber trotzdem muss man festhalten, das Kerngeschäft unseres Auftragsgebers, der Kirche ist nicht die Bewahrung von Strukturen, sondern der Glaube. Und dieser ist
per Definition eine feste Zuversicht auf das was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. (Hebräer 11, 1)
Wenn man mal in die Bibel schaut findet man allerdings gar nicht so viele phantastische Ideen sondern vielmehr knallharte Anerkennung von Fakten und deren Analyse. Menschen erleben Krisen und lernen damit umzugehen. Dabei fällt auf, es geht weniger darum die Situation zu verändern, sondern darum sie zu bewerten – sie im rechten Licht zu sehen.
Modern ausgedrückt würde man sagen es geht um „Reframe your mindset“ oder auf Deutsch gesagt, um Referenztransformation.
Der Begriff kommt aus der systematischen Familientherapie und wurde von Virginia Satir erfunden. Deren These lautet: Der mentale Rahmen, der um eine Situation gelegt wird, bestimmt die Wahrnehmung des Bildes. Bei Veränderung des Rahmens, wird das Bild anders wahrgenommen. In der Therapie findet das in etwa so Anwendung. Wenn der Patient sagt: „Die Sucht überkommt mich einfach und ich kann nichts dagegen tun“, dann lautet der Ansatz: „Wie sieht eine Situation aus, in der Sie es schaffen der Sucht zu widerstehen?“.
Im Volksmund macht man genau dasselbe wenn man sagt: „Scherben bringen Glück“. Die zentrale Frage lautet nicht „warum“, sondern „wozu“ – man weiß nie, wozu etwas gut ist.
Es gibt noch ein anderes berühmtes Beispiel, dass man sich von Henry Ford erzählt:
Ein junger und talentierter Mitarbeiter hatte durch einen Managementfehler einige hunderttausend Dollar in den Sand gesetzt und musste nun vor Henry Ford Rechenschaft ablegen. Er befürchtete, dass er wohl entlassen würde und sagte: „Es tut mir furchtbar leid. Sie werden mir jetzt wohl kündigen.“ Darauf entgegnete Henry Ford: „Machen sie Witze? Ich habe gerade mehrere hunderttausend Dollar in ihre Ausbildung investiert und bin mir sicher, dass sich diese Investition auszahlen wird.
Peter Scherle, mein Ausbilder im Predigerseminar, hat mal gesagt: Wir müssen die Erzählung von Dingen beherrschen. Wir können sagen: Die Kirche und Diakonie gehen den Bach runter – oder: Kirche und Diakonie befinden sich in einer Zeit der Konzentrierung auf das Wesentliche.
Schauen wir nochmal in die Bibel wo sich jede Menge Beispiele für Referenztransformationen finden:
- Das Volk Israel findet nach Sklaverei und währen der Wüstenwanderung seine Identität.
- David argumentiert, dass ihn sein Beruf als Schafhirte bestens für den Kampf gegen Goliath und als König qualifiziert.
- In der Krise der Babylonischen Gefangenschaft werden wesentliche Teile der Thora und des Gottesbildes neu formuliert.
- Die Seligpreisungen handeln davon, dass wer ganz unten ist und am wenigsten hat, am meisten gewinnen und am weitesten aufsteigen kann.
- Beim Jüngerwettstreit heißt es: Wer leiten will, muss dienen.
- Die Geschichte dem Zöllner Zachäus lehrt uns: Wer viel genommen hat, hat auch viel zu geben.
- Und als Jesus eine arme Frau sieht, die einen Groschen spendet sagt er: Wer wenig hat und ein bisschen gibt, der gibt mehr als der Reiche der viel gibt.
- Und zuletzt natürlich die große Erzählung von Tod und Auferstehung. Dass Sterben ist nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem ist.
Diese Erzählungen sind große Schätze, die wir in Kirche und Diakonie haben und es gibt viele Weitere im Laufe ihrer Geschichte. Vielleicht schaffen wir es, diesen anderen Blickwinkel einzunehmen auch bei unserer Arbeit. Nicht von den Defiziten, sondern von den Möglichkeiten her zu denken. Das ist die lebensverändernde Kraft des Glaubens, die sogar auch mal die Schwerkraft in Frage stellen, Berge versetzen kann oder auf dem Wasser laufen lässt.
Frankfurt, den 3. April 2023