Andacht von Andreas Lipsch
Flucht und Migration spielen in Diakonie und Kirche nicht zufällig eine besondere Rolle. Sie sind nicht nur ein wichtiges Tätigkeitsfeld, sondern haben mit dem Grund und dem Kern der jüdisch-christlichen Tradition zu tun. Die Bibel selbst hat einen „Migrationshintergrund“. Sie erzählt – vor allem anderen – von einem Exodus. Der Auszug aus Ägypten begründet in der Bibel nicht nur die Identität eines Volkes, sondern auch die Identität Gottes. „Der dich aus Ägypten herausgeführt hat“ wird zum Namen des Gottes, den Leid und Ungerechtigkeit nicht ungerührt lassen, der Freiheit schenkt und mit seinen Leuten mitgeht. Auch Gott ist unterwegs.
Die Bibel hat diese konkrete Erfahrung zu einer bleibenden Erinnerungsfigur für alle nachfolgenden Generationen gemacht. Auch und gerade, wenn sie vermeintlich zuhause sind, das Leid in der Fremde und die Mühen einer Migration nicht mehr kennen, sollen sie sich an die Geschichte ihrer Väter und Mütter erinnern. Und wenn sie selber von Flucht oder Vertreibung betroffen werden, soll ihnen die Erinnerung an den befreienden Gott und die Bewahrung im ersten Exodus dabei helfen, die Hoffnung lebendig zu halten. Diese spezifische Erinnerungskultur, die sowohl des Leidens und der Schwierigkeiten wie der geschenkten Freiheit eingedenk bleibt, hat ein ganz besonderes Verhältnis zum Eigenen und zum Fremden hervorgebracht.
Die Erinnerung an die eigene Fremdheit in Ägypten begründet eine grundsätzliche Sympathie für die Fremden, die in der Mitte der Gesellschaft wohnen. „Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen.“ (2. Mose 23,9) Kein Gebot wird in der Bibel öfter wiederholt und eingeschärft als dieses. In Stammesreligionen galt bis dahin, dass man allein den Nächsten, und das meinte den Stammes- oder Volksgenossen, lieben solle wie sich selbst. Wenn nun gefordert wird, den Fremden so zu lieben, dann sprengt das die ethnischen und kulturellen Grenzen der Religion.
Die Vorstellung, dass auch dem Fremden das Gottesrecht zusteht, war im Grunde ein erster Schritt zur Formulierung von allgemeinen Menschenrechten, die unabhängig sind von Herkunft, ethnischer, kultureller und religiöser Zugehörigkeit. Umso unverständlicher, dass die Idee universell gültiger Menschenrechte in der Evangelischen Kirche bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überwiegend auf Skepsis und Ablehnung stieß.
Heute ist das grundlegend anders. Vor allem den Bürgerrechtsbewegungen in den USA und in Südafrika in den 1960er und -70er Jahren sowie der lateinamerikanischen Befreiungstheologie ist es zu verdanken, dass die Verteidigung und Verwirklichung der Menschenrechte mittlerweile als zentrale diakonische und kirchliche Aufgabe wahrgenommen wird.
Die Soziale Arbeit der Diakonie verstehen wir heute als Menschenrechtsprofession, die zuerst die unantastbare Würde jedes und jeder Einzelnen im Blick hat. Und sie gerade da achtet und schützt, wo es Staat und Behörden nicht hinreichend tun. Das führt in der diakonischen Migrations- und Flüchtlingsarbeit immer wieder auch zu Spannungen und Konflikten mit Behörden und der Politik. Dasselbe erleben Kirchengemeinden, die schutzbedürftigen Menschen ein sogenanntes Kirchenasyl gewähren. Damit beanspruchen die Gemeinden kein Recht neben dem Recht, wie ihnen immer mal wieder vorgeworfen wird. Ihr Ziel ist vielmehr die Durchsetzung von Grund- und Menschenrechten innerhalb der bestehenden Rechtsordnung.
Günter Dürig, der große Kommentator des Grundgesetzes, hat die Grundrechte, allen voran Artikel 1 des Grundgesetzes – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ –, als die „ethische Unruhe" des Rechts bezeichnet. Von dieser Unruhe sind viele Kirchengemeinden und diakonische Beratungsstellen bewegt, wenn die Würde von Menschen durch Gesetze oder Behörden angetastet wird. Solches Engagement wird öfter als „ziviler Ungehorsam“ beschrieben. Ich schlage einen anderen Begriff vor – nicht nur für das Kirchenasyl, sondern für die gesamte kirchlich-diakonische Arbeit, die sich streitbar für die Menschenrechte einsetzt. Ich nenne sie „zivilen Menschenrechtsgehorsam“.
Andreas Lipsch
Interkultureller Beauftragter der EKHN
Leiter der Abteilung Flucht, Interkulturelle Arbeit, Migration der Diakonie Hessen