Andacht von Thomas Klämt-Bender, Referat "Diakonie in der Region"
Ich weiß nicht, ob Sie diesen Engel schon einmal gesehen haben. Es ist ein Engel mit körperlicher Beeinträchtigung aufgrund einer Spastik, hergestellt in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen im russischen Pskov. Hier ein Exemplar, kurz nach der Lasur. Ich habe vor einigen Jahren einen solchen Engel geschenkt bekommen, als ich im Rahmen eines deutsch-russischen Sozialforums dort zu Besuch war. Pskov liegt ganz im Westen Russlands, unweit der Grenze zu Estland. Bis heute bleiben die herzlichen Begegnungen und die Aufbruchstimmung unter den russischen Organisationen, die wir kennenlernten, in eindrucksvoller Erinnerung. Dem entsprechend stand die physische Beeinträchtigung des Engels für die Vision einer inklusiven Gesellschaft - bei uns und auch in Russland. In diesen Tagen allerdings erinnert die sichtbare Behinderung schmerzlich an den zerbrochenen Flügel eines Friedensengels.
Psalm 85,8-14
Gott, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!
Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet,
dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen,
auf dass sie nicht in Torheit geraten.
Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,
dass in unserm Lande Ehre wohne;
dass Güte und Treue einander begegnen,
Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
dass Treue auf der Erde wachse
und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
dass uns auch Gott Gutes tue
und unser Land seine Frucht gebe;
dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe
und seinen Schritten folge.
Amen.
„Dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen …“. Dieses poetisch anmutende Bild des Psalmbeters, dass auch unsere Sehnsucht nach Frieden in der Ukraine und in Europa aufnimmt, klingt in der Stimmungslage dieser Tage eher unpassend. Es klingt heute eher nach Kirchentagsfrieden und weniger nach Passionszeit, in der wir uns aktuell in jeder Hinsicht befinden. So sind Waffenlieferungen in Kriegsregionen und Aufstockungen von Rüstungsetats selbst für Pazifisten unter uns wieder denkbar.
Aber wann ist der richtige Zeitpunkt für Friedensbotschaften?
So bin ich nicht sicher, ob es der richtige Moment ist von einer deutsch-russischen Versöhnungsgeschichte etwa 50 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges zu erzählen, wie es der Pskover Engel könnte. Die russische Region Pskov wurde seinerzeit von den Nazis auf das Grausamste geschliffen. Eine Delegation der Rheinischen Kirche machte sich in den 90er Jahren auf den Weg nach Pskov und bat um Entschuldigung dafür und ermöglichte dort die Gründung einer Heilpädagogischen Einrichtung. Ihr Markenzeichen wurde dieser Engel.
Aber klar und wichtig ist heute: Gott, der ein Gott des Friedens ist, stellt seine Botschaft in einen größeren Zusammenhang:
Gerechtigkeit und Frieden, beides gehören zusammen und bedingen einander. Für beides soll unsere Treue und unser Streben wachsen. Beides wird aktuell in der Ukraine mit Füßen getreten, wahrscheinlich nur stellvertretend für ein Kräftespiel auf der globalen Bühne der Mächte. Gott aber, so wie ich ihn verstehe, steht für eine Vision des Zusammenlebens auf Augenhöhe - und vor allem für ein Miteinander ohne Gewalt.
Und was können wir jetzt tun?
Jetzt, wo sich die Fronten zwischen West und Ost wieder verhärten und wo alte Drohkulissen wieder aufleben, sollten wir tunlichst darauf achten, dass wir selbst nicht feindselig werden. Feindseligkeit macht hart und ungerecht und sie verschließt Türen, die aus der Krise herausführen könnten. Eine differenzierte Beurteilung der russischen Gesellschaft ist und bleibt notwendig. Neben den Kriegstreibern und ihren Verbündeten, gibt es nach wie vor viele Menschen, die sich trotz massiver Repressalien gegen den Krieg aussprechen und auch solche, die mit ganz viel Mühe für eine inklusive Gesellschaft kämpfen. Dazu auch solche, die für Völkerverständigung eintreten. Wir müssen uns nur zurückbesinnen an gute persönliche, kulturelle oder historische Erfahrungen. Besonders eindrucksvoll ist die Wiedervereinigung Deutschlands vor mehr als 30 Jahren, auch durch die Unterstützung des russischen Präsidenten Gorbatschow ermöglicht worden.
Ein wenig inspiriert durch die Vorüberlegungen zu dieser Andacht habe ich kürzlich Swetlana, der Förderschulleiterin, die ich in Pskov kennengelernt habe, eine Mail geschrieben. Ich war unsicher, ob dieser Kommunikationsweg noch offen ist. Und zu meiner Überraschung kam noch letzte Woche eine Antwort. Darin schreibt sie:
"Wir alle sind sehr besorgt über die aktuelle und zukünftige Situation.
Aber wir hoffen sehr, dass trotz allem die menschlichen Kontakte am stärksten sein werden."
Amen.
Thomas Klämt-Bender, Referat "Diakonie in der Region"