Wann, wenn nicht jetzt?
Eine Krise zeigt uns, wie weit wir von Geschlechtergerechtigkeit entfernt sind
In aller Welt demonstrieren Frauen seit 1911 am Internationalen Frauentag für ihre Rechte. Dieser Tag wird seit 1921 jährlich am 8. März gefeiert und wurde 1977 durch die UN-Generalversammlung offiziell als Internationaler Frauentag anerkannt.
Es ging zunächst um das Wahlrecht für Frauen und die politische Beteiligung. Später kamen weitere Themen hinzu, wie u.a. Mutterschutz, die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und für den Abbau bestehender Diskriminierungen.
Die traditionelle Rollenverteilung lastet noch immer auf dem Rücken der meisten Frauen. Die Corona-Krise hat diese latent vorhandenen Muster besonders hervorgehoben (1). Denn es sind vor allem Frauen, die versuchen Beruf/Homeoffice, Kinderbetreuung, Homeschooling, Hausarbeit und teilweise noch hinzukommend die Pflege von Angehörigen, zu leisten. Häufig einhergehend mit finanziellen Sorgen aufgrund von Kurzarbeit oder drohender Arbeitslosigkeit.
Diese massiven Belastungen, in einem Ausmaß, das es so vor der Pandemie nicht gegeben hatte, führte bei vielen Frauen, Paaren sowie Familien zu Überforderung, Existenzängsten, Erschöpfung und gesundheitlichen Problemen.
In den Beratungsstellen der Müttergenesung wie auch in den Schwangerschafts(konflikt)-beratungsstellen wurden vom ersten Lockdown im März 2020 bis heute die große Not der Frauen und Familien offensichtlich. Trotz Lock down und der Angst vor Ansteckung war der Beratungsbedarf in 2020 hoch und gerade in den Wochen in denen Jobcenter und Behörden nur aus dem Homeoffice agierten, waren die geöffneten Beratungsstellen wichtiger denn je. Dort erhielten die Ratsuchenden den Raum über ihre Sorgen zu sprechen, den Zuspruch und die Sicherheit den Blick nach vorne zu wagen.
Man stelle sich nur mal vor:
Frau S., Studentin, erwartet ihr erstes Kind und mit Blick auf den errechneten Geburtstermin werden immer mehr Unsicherheiten und Fragen laut. Der Vater des Kindes hat sich kurz vor der Geburt getrennt, eine nahestehende Begleitperson darf bei der Geburt nicht im Kreissaal dabei sein und Geburtsvorbereitungskurse finden nicht statt. Nach der Geburt wird es kaum Austausch mit anderen Müttern geben, Krabbelgruppen und Elterncafés fallen aus. Die finanzielle Situation ist schwierig, der 450 €-Job in einer Boutique wurde ihr – aufgrund des Lockdowns - gekündigt. Und wann sie ihr Studium fortsetzen kann, weiß sie auch nicht. Für Ihre berufliche Zukunft sieht sie schwarz.
Frau B. ist mit einem Kleinkind und zwei Schulkindern zu Hause und im Home-Office. Gleichzeitig steht die Vermittlung des Schulstoffs aus unterschiedlichen Jahrgangsstufen an und das zweijährige Kind, das nicht von ihrer Seite weicht. Zusätzlich sind Hausarbeit und die berufliche Tätigkeit zu erledigen, was oft auf die späten Abendstunden fällt. Zeiten für Selbstfürsorge gibt es nicht. Außerdem drücken sie finanzielle Sorgen, da ein Kredit abzuzahlen ist und durch Kurzarbeit die Einkünfte vermindert sind. Regelmäßig fällt sie erschöpft in einen unruhigen Schlaf und wird von Tag zu Tag dünnhäutiger. In der Beratungsstelle erhält sie Raum über Ihre Sorgen zu sprechen und Unterstützung bei der Beantragung einer Kurmaßnahme, in der sie Kraft tanken kann und neue Impulse erhält.
Frau M., erlebt seit vielen Jahren Demütigungen und Gewalt in der Ehe, nach der Geburt ihrer Tochter eskaliert die häusliche Situation. Der Ehemann ist aufgrund von Corona in Kurzarbeit und hält sich die meiste Zeit zu Hause auf. Die junge Mutter muss sich noch um ihre pflegebedürftigen Eltern kümmern, die aufgrund von Corona kaum noch vor die Tür gehen. Den Säugling will sie nicht in der Obhut des Vaters lassen. In die Beratungsstelle kommt sie, da sie von einer Freundin erfahren hat, dass sie finanzielle Unterstützung bei der Erstausstattung erhalten kann. Nach einigen weiteren Beratungsterminen fasst sie Vertrauen und schildert ihre häusliche Situation und der Kontakt zu einem Frauenhaus wird aufgenommen.
Frauen, wie eben beschrieben, geraten durch die Pandemie und ihre Folgen mehr als je zuvor in Not. Wie wichtig, auch gerade in Zeiten der Pandemie, Anlaufstellen und deren umfassende Beratung sind, zeigt sich Tag für Tag in den diakonischen Beratungsstellen vor Ort.
Seit letztem Jahr und gerade in der aktuellen Situation sehen Verbände und Gewerkschaften massiven Handlungsbedarf. Sie appellieren an das Verantwortungsbewusstsein der Politik, um ein „ebenso engagiertes, sachbezogenes, mutiges und zeitnahes Handeln wie jetzt in der Zeit der Corona-Pandemie“ zu erreichen und für die Zukunft endlich die notwendigen Weichen zu mehr Geschlechtergerechtigkeit zu stellen.
Unter der Überschrift „Wann, wenn nicht jetzt!“(2) fordert das Positionspapier (3) unter anderem:
- Angemessene Entlohnung und Ausbau der sozialversicherungspflichtigen Jobs
- anstelle der aktuellen Minijobs
- Care-Arbeit von Müttern und Vätern ermöglichen
- Ausbau der Schutzkonzepte, Beratungsangebote und Interventionsstellen bei häuslicher Gewalt – kostenfrei, bedarfsgerecht und flächendeckend
- Effektiver Gewaltschutz sowie unabhängige Beschwerdesysteme für geflüchtete Frauen und Männer
- Steuer-, Sozial- und Familienleistungen als tatsächliche finanzielle Entlastung für Alleinerziehende
Ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit dem steigenden Bedarf nach flexiblen, familienbewussten Arbeitsbedingungen (4) zu realisieren? Wie lange müssen wir noch auf die längst überfällige Anerkennung und Aufwertung der sogenannten „Care“berufe, wie zum Beispiel Erzieherin und Pflegerin warten? Was muss noch getan werden, damit Väter selbstverständlicher in Elternzeit gehen? Und wann führen Kindererziehungszeiten nicht zum Nachteil der beruflichen Karriere?
Die Soziologin Jutta Allmendinger befasst sich in ihrem im Januar 2021 erschienen Buch „Es geht nur gemeinsam!“ mit der Thematik „Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen“ (5). Ein Titel, der den Weg vorgibt: Nur gemeinsam können wir etwas verändern und Geschlechtergerechtigkeit verwirklichen.
Wann, wenn nicht jetzt!
Heidrun Klinger-Meske, Referentin für Frauen- und Familiengesundheit
Beatrice Gomez-Barroso, Referentin Frauen, Familie und Beratung
Quellen
1) Johanna Possinger,/ Dörthe Gatermann, „Familien in Zeiten der Pandemie – Erschöpfung, Home Office und ein „Backlash“ der elterlichen Arbeitsteilung? NDH, 01/2021, S. 13
2) Aufruf der BAG kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsstellen vom 29.04.2020
3) https://www.frauenrat.de/wann-wenn-nicht-jetzt-aufruf-von-frauenverbaenden/
4) BMFSFJ, Familienreport 2020, S.10
5) Jutta Allemdinger, „Es geht nur gemeinsam“, Ullstein- Buchverlag 2021