von Pfarrerin Dr. Angela Rascher, Abteilung Gesundheit, Alter, Pflege
Am 2. Juli 2022, dem ersten Samstag im Juli, war – wie jedes Jahr – internationaler Genossenschaftstag. Die „Idee und Praxis der Organisation von gemeinsamen Interessen in Genossenschaften“ ist übrigens seit 2016 immaterielles UNESCO-Kulturerbe und eine weltweite Erfolgsgeschichte.
1846 war der 26-jährige Friedrich Wilhelm Raiffeisen Bürgermeister in Weyerbusch, einer kleinen Gemeinde im Westerwald. Im Hungerwinter 1846/47 sah er, wie viele Menschen Not litten. Kaum einer konnte sich das Brot leisten, dessen Preis sich verdreifacht hatte. Raiffeisen wollte diese Menschen unterstützen und gründete mit den Wohlhabenden seiner Gemeinde den „Weyerbuscher Brodverein“. Dafür leistete er Überzeugungsarbeit: Er persönlich hielt es für eine christliche Pflicht derjenigen, die Geld hatten, Ärmere zu unterstützen. Das erhaltene Kapital nutzte Raiffeisen, um Getreide in großen Mengen zu einem guten Preis zu kaufen. Ein Backhaus wurde gebaut, ein Bäckergehilfe eingestellt – und so konnten die Menschen in Weyerbusch das Brot viel günstiger erwerben als anderswo. Wer nicht zahlen konnte, durfte Schulden machen – verschenkt wurde nichts. Dank dieses Brotvereins kamen die Menschen besser durch den Hungerwinter.
1848 wechselte Raiffeisen ins benachbarte, größere Flammersfeld. Seine Idee, gemeinsam zu wirtschaften entwickelte sich weiter: Diesmal waren nicht nur die Wohlhabenden bzw. Geldgeber Vereinsmitglieder, sondern alle. Der im Dezember 1849 mit 60 Bürgern gegründete "Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte" sorgte durch gemeinsamen Einkauf für bessere Konditionen im Ankauf, die günstigen Preise wurden an alle Vereinsmitglieder weitergegeben. Im Verein selbst waren alle gleichermaßen stimmberechtigt – egal, wie viel Geld sie hatten.
Raiffeisen entwickelte die Idee noch weiter – am nächsten Dienstort gründete er 1854 den "Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein", später wurde daraus der "Darlehnskassen-Verein". Er hatte erkannt, dass nicht nur der Einkauf gemeinschaftlich organisiert werden sollte, sondern dass eine eigene Bank sich besser an den Bedürfnissen der Vereinsmitglieder orientieren konnte. So wurden beispielsweise – anders als in anderen Bankhäusern – kleine Kredite vergeben. Der Darlehensverein zahlte keine Dividenden aus und wurde ehrenamtlich geführt. Zinseinnahmen wurden in einem Stiftungsfonds angespart – und mit diesem wurden soziale Projekte gefördert.
Mit allen beruflichen Stationen wuchs Raiffeisens Idee der Genossenschaft. Er veröffentlichte Texte dazu und vernetzte sich mit anderen, die ähnliche Ideen hatten. Beispielsweise auch mit der Inneren Mission.
Raiffeisens Überzeugung war: die Vereine sollten klein bleiben, meist auf eine Pfarrei beschränkt – so kannten sich die Mitglieder. In einem gemeinsamen Verbund waren die einzelnen Vereine zusammengefasst.
Für Raiffeisen fußten seine Ideen klar auf seinem christlichen Glauben und hatten immer auch sozialethische Implikationen. Ihm war wichtig, dass die Gemeinschaft nach christlichen Vorstellungen funktioniert, dass die Einzelnen nicht über die Stränge schlugen. Das alles sind eher traditionelle Positionen, vielleicht Kinder ihrer Zeit: ein klassisches Familienbild; die Unterstützung der Armen durch die Wohlhabenden als Christenpflicht; hohe Sozialkontrolle und ein angemessener Lebensstil. Darüber hinaus prangerte er den Wucher der oft jüdischen Kreditgeber an, ohne sich im geringsten an den darin enthaltenen Antisemitismen zu stören.
Mich persönlich überzeugt daher auch weniger die Sozialethische Grundorientierung Raiffeisens und der Genossenschaftsidee, als vielmehr das dahinter stehende Menschenbild.
In Psalm 8 wird dieses Menschenbild poetisch zum Ausdruck gebracht. Da heißt es:
Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst,
das Menschenkind, dass du dich seiner annimmst?
Kaum geringer als Gott –
so hast du den Menschen geschaffen.
Du schmückst ihn mit einer Krone –
so schenkst du ihm Herrlichkeit und Würde
(Psalm 8, 5f, Basisbibel)
Tatsächlich ist das biblische Menschenbild, wie es in der ersten Schöpfungsgeschichte der Bibel beschrieben wird, revolutionär: Würde und Wert haben alle gleichermaßen, ohne Unterschiede. Alle – nicht nur wenige, nicht nur Könige – sind gottebenbildlich: „Gott sprach: Lasst uns Menschen machen – unser Ebenbild, uns gleich sollen sie sein!“ (1. Mose 1,26, Basisbibel)
Jeder Mensch: Gott-Ebenbild, herrlich und würdevoll – mit einer Krone geschmückt. Egal, woher er kommt, egal, wie viel er verdient, egal, in welcher körperlichen Verfassung er ist – Gott-Ebenbild, herrlich und würdevoll. Und das im besten Sinne des Wortes un-verdient: Gott spricht dies jedem Menschen zu und zeichnet diesen Menschen aus: mit Würde und Herrlichkeit, mit einer Krone geschmückt, Gott-Ebenbild. Ohne dass es sich jemand verdienen müsste.
Die Genossenschaftsidee fußt auf diesem Menschenbild: dass in jedem und jeder etwas steckt, dass dem Gemeinwohl dienen kann. Und ich denke auch, dass wir erst im Miteinander der vielen verschiedenen Gaben und Begabungen herausfinden können, was denn das große Wort Gemeinwohl konkret bedeutet. Dafür braucht es Strukturen, die solch ein Miteinander fördern.
Eigentlich eine gute Idee. Nicht nur am ersten Samstag im Juli.
Frankfurt, 18. Juli
Pfarrerin Dr. Angela Rascher