Predigt von Bischöfin Dr. Beate Hofmann zum Nachlesen

Liebe Gemeinde hier in der Friedenskirche und zuhause an den Bildschirmen,
das Lied, das Njeri Weth eben gesungen hat, hat mich sehr berührt, als ich es zum ersten Mal gehört habe. In vertrauten und in sehr ungewöhnlichen Bildern beschreibt es, wie Gott für uns sorgt und unter uns wirkt. Das Lied von Greg Fergueson besingt Gott als

Peacemaker, fear taker,
Friedenstiftend, Angstnehmend
soul soother, storm smoother,
Seelenberuhigend, Sturmstillend
Light shiner, lost finder, cloud lifter, deliverer
Lichtschein, das Verlorene findend Wolkenhebend, Gebärend
Heart toucher, truth lover, who other could be
Das Herz berührend, die Wahrheit liebend, wer sonst könnte
Fear taker, peacemaker to me?
meine Angst nehmen und mir Friedenstifter sein?

Vielleicht fragen Sie jetzt: wie und wo tut Gott so etwas für uns?
Die Engel, die Gott zu uns schickt, haben meist zwei Hände und zwei Füße und keine Flügel. Es sind Menschen, die für einander Mind clearer, sigh hearer, hand holder, consoler sind, also den Verstand klären, die Seufzer hören, die Hand halten und trösten und die damit im Auftrag Gottes begleiten, stärken, trösten.,

Wound binder, tear drier, strength giver, provider
Wunden verbinden, Tränen trocknen, Stärke geben, vorsorgen,

Für mich ist dieses ganze Lied eine jobdescription für das, was in der Müttergenesung geschieht. Seit mehr als 70 Jahren organisiert auch in Hessen, aber eigentlich schon seit über 100 Jahren.
Viele Leute denken ja, Müttergenesung sei eine Erfindung der Nazis. Nein, die Idee ist älter, sie wurde nur von den Nazis aufgegriffen und für ihre rassistischen Zwecke missbraucht. Schon 1908 hat die Evangelische Frauenhilfe südlich von Berlin ein „Erholungsheim für Frauen und Mädchen der arbeitenden Stände“ eröffnet. Über die Vernetzung der evangelischen Frauenarbeit lernte Dr. Antonie Nopitsch die Arbeit der Frauenhilfe kennen. Antonie Nopitsch war promovierte Nationalökonomin und Lehrerin an der sozialen Frauenschule in Nürnberg, wo sie Fürsorgerinnen ausbildete. Als die Schule geschlossen wurde Ostern 1933, wurde sie arbeitslos. Das nahm sie zum Anlass, eine innovative soziale Organisation zu gründen, den Bayerischen Mütterdienst, mit der Idee, Müttererholung, Mütterbildung bzw. später Familienbildung und kirchliche Frauenarbeit miteinander zu verknüpfen. Leib, Geist und Seele sollten hier genährt und gestärkt werden. Die ganze Kriegszeit hindurch lief die Müttererholungsarbeit weiter, in kirchlichen Erholungsheimen, begleitet von Pfarrfrauen, die den Müttern ein Programm boten, weil sich sehr schnell zeigte, dass die Frauen wenig mit sich anfangen konnten, wenn sie plötzlich viel Zeit für sich hatten.

Nach dem 2. Weltkrieg lief die Arbeit schnell wieder an, viele kriegstraumatisierte, von Bombennächten, Hunger und Flucht erschöpfte Frauen fanden in den Erholungsangeboten neue Kraft. Doch die Arbeit war finanziell ständig vom Kollaps bedroht. 1949 besuchte die designierte First lady Elly Heuss-Knapp die Zentrale des BMD in Stein bei Nürnberg, wo auf dem Gelände eines ehemaligen HJ-Heims ein Müttererholungsheim, eine Bibelschule und das Büro des WGT entstanden war. Elly Heuss-Knapp war selbst Sozialexpertin. Im Gespräch mit Antonie Nopitsch erkannte sie schnell das Potenzial der Arbeit und beschloss, es sich zu eigen zu machen. Sie nutze ihre politischen Verbindungen und schuf 1950 das Dt MGW, dessen erste Geschäftsführerin Antonie Noptisch wurde.

Vielleicht erinnern sich einige noch an die kleinen Papierblumen oder die Postkarten, die man bei der Straßen- oder Haussammlung für das MGW als Dank für eine Spende erhielt. Diese Blumen ließ Nopitsch von Flüchtlingsfrauen herstellen und gab ihnen damit Arbeit und Perspektive.

Die Idee der Müttergenesung ist eigentlich ganz einfach: Familien soll geholfen werden, bevor sie zerbrechen. Immer wieder beobachtete Nopitsch in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, wie Frauen unter der Last von Arbeit, Haushalt und Kindererziehung, mit frustrierten, arbeitslosen Männern zusammenbrachen und jede Form der Hilfe erst griff, wenn es eigentlich zu spät war. Gegen dieses „zu spät“ wollte Nopitsch etwas setzen. Müttererholung war eine Form von Präventionsarbeit. Durch Erholung, durch Gesundheitsfürsorge, aber auch durch Bildungsmaßnahmen, die Frauen uterstützen sollten beim Jonglieren zwischen Haushalt mit knappen Mitteln, Kindererziehung und Familienorganisation helfen sollte. Auch die geistliche Nahrung gehörte dazu, durch Andachten, Bibelarbeiten und den Getrosten Tag, ein Andachtsbüchlein für die Schürzentasche.

Manches klingt aus heutiger Sicht etwas verzopft oder erweckt den Verdacht, auf traditionelle Rollenbilder zu fixieren. Der Verdacht ist falsch, das hat mich in meiner Doktorarbeit über den Bayerischen Mütterdienst und diese Arbeit besonders fasziniert. Gute Mütter waren ursprünglich das Ziel, starke Frauen und starke Familien das Ergebnis. Schon in den 60er Jahren wurde aus Mütterbildung Familienerholung, schon früh wurden auch Väterkuren, Kuren für Alleinerziehende, für Frauen von behinderten Kindern und zunehmend auch für Töchter von zu pflegenden Angehörigen angeboten. Müttergenesung war nicht ideologisch, sondern pragmatisch an dem ausgerichtet, was Frauen und Familien brauchen. Die jährlichen Statistiken zur Gesundheit von Frauen bei der Pressekonferenz des MGW zeigten die gesundheitlichen Belastungen von Müttern und Familien und waren ein deutliches Signal an die Politik: Macht was!

1962 wurde die Müttergenesung in das Bundessozialhilfegesetz aufgenommen und damit eine Regelleistung. Krankenkassen waren verpflichtet, Müttergenesung zu finanzieren. Theoretisch. Praktisch entwickelte sich leider schnell ein Marathon von Kurbeantragung, Ablehnung, Widerspruch, erneute Behandlung, dann hoffentlich Genehmigung, von dem fast jede Beratungsstelle Arien singen kann. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei allen Mitarbeitenden, die sich tagtäglich um Genehmigungen bemühen und von Ablehnungen nicht entmutigen lassen. Ich sage es ganz ehrlich und ganz deutlich: Diese Haltung der Krankenkassen und Ämter verstehe ich nicht. Denn die präventive Wirkung von Müttergenesung und Familienerholung ist erwiesen und sie spart den Kassen  und dem Staat viel Geld. Denn sie wirkt, bevor es zu spät ist, bevor Familien auseinander brechen, Kinder ein neues Zuhause brauchen, Mütter und Väter eine langwierige Krankengeschichte entwickeln etc. Das galt damals, das gilt heute.

Denn die Idee ist bleibend aktuell. Als durch Corona alle Unterstützungsmaßnahmen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weggebrochen sind, da ist in vielen Familien die traditionelle Rollenverteilung wieder sichtbar geworden. Auch wenn manche Väter mitgeholfen haben, in meinem Umfeld und im Fernsehen habe ich viel mehr Frauen gesehen, die Homeschooling und Homeoffice gleichzeitig jongliert haben. Das war und ist wahnsinnig anstrengend. Darum hat die EKKW zusammen mit der Diakonie Hessen und dem Diakonischen Werk Kassel viel in Bewegung gesetzt, um erschöpften Familien in diesem Sommer in unseren Freiheitheimen Kurzurlaube zu ermöglichen, jenseits aller langen Beantragungswege, einfach mal ein paar Tage raus. Müttergenesung 2.0 in Coronazeiten, begleitet und finanziell unterstützt für alle, die sich im Moment keinen Urlaub leisten können.

Warum tun wir das als Kirche? Schon Gott selbst hat die Bedeutung von Pausen erkannt und in die Schöpfung integriert. Er ruhte am 7. Tag und wir sollen das auch tun. Nur wer ausruht, kann auch etwas leisten. Unter diesem Vorzeichen verstehe ich, was der Prophet Jesaja im Kapitel 40 schreibt:

29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. 30 Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; 31 aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Das ist die Erfahrung, die auch im Lied von Njeri Weth anklingt. Müttergenesung ist eine praktische Umsetzung dieses Wortes. Sie sorgt dafür, dass eine Lücke geschlossen wird, die der Prophet in seinem männlichen Blick geschaffen hat: Nicht nur die Männer werden müde und matt, auch die Frauen. Sie alle sollen gestärkt werden, damit sie wieder Kraft haben für ihr Leben.
Das ist Gottes Wille, das ist, was Gott für uns tut. Gott tut es nicht allein, sondern er nutzt unsere Hände, Münder und Herzen dazu.
Und der Friede Gottes, der weiter ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.