Stefan Gillich, Leiter der Abteilung Existenzsicherung, Armutspolitik und Gemeinwesendiakonie bei der Diakonie Hessen, zu den aktuellen Themen rund um Wohnungslosigkeit.
Was ist mit Wohnungslosigkeit gemeint?
Wohnungslos ist, wer keine Wohnung besitzt bzw. nicht über einen mit einem Mietvertrag abgesicherten Wohnraum verfügt. Das können Menschen sein, die in Notunterkünften untergebracht sind, in Sammelunterkünften oder als Selbstzahlende in Pensionen leben, bei Bekannten nächtigen oder sogar dauerhaft im Freien nächtigen.
Warum werden Menschen wohnungslos?
Niemand wird als wohnungsloser Mensch geboren. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. Schicksalsschläge oder Zerwürfnisse in der Familie können Auslöser sein, manche haben schon als Kind im Heim gelebt und nie richtig Fuß fassen können. Psychische Krankheiten, Sucht oder ein Gefängnisaufenthalt können ebenso wie Arbeitsplatzverlust zum Verlust der Wohnung beitragen, wenn das Geld für die Miete der Wohnung nicht mehr ausreicht. Wachsen die persönlichen Probleme über den Kopf, verlieren manche den Überblick und kommen ihren Pflichten nicht mehr nach. Ein Teufelskreis, der irgendwann mit dem Wohnungsverlust endet.
Welche Merkmale verbergen sich hinter der Forderung an die hessische Landesregierung, umgehend ein Förderprogramm „Wohnungslosigkeit überwinden“ aufzulegen?
- Einführung einer landesweiten integrierten Wohnungsnotfallstatistik
- Landesweite Untersuchung zu Umfang, Struktur und Hilfen für Menschen in Wohnungsnotlagen
- Förderprogramm zum Aufbau kommunaler Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungsverlusten im ländlichen Raum
- Förderprogramm „Pro Wohnen“ zur Förderung von Netzwerken zur Prävention von Wohnungsverlusten und zur Erschließung von Wohnraum
- Förderprogramm „Von der Straße in die Wohnung“ durch aufsuchende Hilfen auf der Straße, Akquise von Wohnungen, wohnbegleitende Hilfen
Warum befürchtet die Diakonie Hessen eine Zunahme der Wohnungslosigkeit?
Zentral ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Der Mangel bleibt die nächsten Jahre bestehen. Parallel steigt für die, die es sich leisten können, die Größe der Wohnung an. Menschen im Hartz IV-Bezug finden für die von den Jobcentern festgelegten Obergrenzen in der Regel kaum eine Wohnung, da die vorgegebenen Grenzen oftmals nicht der örtlichen Realität entsprechen. Jetzt kommen noch Menschen hinzu, die coronabedingt z.B. erhebliche Einkommensverluste hinnehmen mussten, persönliche Krisen durchmachen, in kritischen Partnerschaften leben und denen nun droht ihre Wohnung zu verlieren. Zudem stellen die Schuldnerberatungsstellen fest, dass zunehmend mehr Menschen ihre Unterstützung benötigen.
Welches Angebot betreibt die Diakonie Hessen regulär, um die Situation wohnungsloser Menschen zu verbessern?
In etwa 40.000 Beratungsgesprächen jährlich unterstützen die Mitarbeitenden in den Diensten und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe der Diakonie Hessen Ratsuchende. Rund 250.000 Besuche und Kontakte gibt es jährlich in den 85 verschiedenen Diensten und Einrichtungen für wohnungslose Menschen an 15 verschiedenen Standorten der Diakonie Hessen. Dazu gehören Fachberatungsstellen, aber auch Tagesaufenthalte mit Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung, Einrichten einer Postadresse, Gelegenheit zum Wäschewaschen, Trocknen, zur Körperpflege oder auch zur Zubereitung von warmen Mahlzeiten. Darüber hinaus bieten Einrichtungen Übernachtungs- und Wohnmöglichkeiten oder betreutes Wohnen an. Zudem gibt es Streetwork und an sechs Standorten eine medizinische Erstversorgung.
Gibt es aktuell Projekte, die über die Regelversorgung hinausgehen?
Die Wohnungsnotfallhilfe der Diakonie Hessen entwickelt und betreibt notwendige Projekte, die den Menschen in ihrer Notlage weiterhelfen, für die es keine Regelfinanzierung gibt und aus Spenden bestritten werden müssen. Dazu gehören „Krank auf der Straße“ zur medizinischen und pflegerischen Versorgung wohnungsloser Menschen ohne Krankenversicherungsschutz oder die Aktion „#wärmespenden“, um Menschen, die in der kalten Jahreszeit Übernachtungsangebote nicht annehmen (können) mit winterfesten Schlafsäcken zu versorgen. Niemand soll in Hessen erfrieren.