Frankfurt, mittendrin. Gleich an der quirligen Konstablerwache, zwischen Supermarkt und Fitnessstudio, ein Eingang, den man gerne übersieht. Ein Klingelschild unter vielen: „Hannah – Wohnen für Frauen“ steht darauf. Für die Frauen, die diese Klingel drücken, bedeutet sie Schutz, einen Ausweg und einen Funken Hoffnung. Zunächst einmal bedeutet sie aber ein warmes Bett. Die Einrichtung der Diakonie Frankfurt und Offenbach, die 2017 eröffnet wurde, ist ein Übergangswohnheim für Frauen in Krisen- und Notsituationen. Neben der Wohnmöglichkeit in 21 Appartements steht hier aber vor allem ein kleines Netzwerk parat, um Betroffenen mit professioneller Beratung und Unterstützung aus ihrer prekären Lebenslage herauszuhelfen.
Zu „Hannah“ kommen unter anderem Frauen, die sich aus einer Beziehung befreien wollen, die von Gewalt und Missbrauch geprägt ist, Frauen, die in einer Schuldenspirale stecken und dadurch ihre Wohnung verloren haben. Und hier sind Frauen, denen genau das aus anderen Gründen zugestoßen ist: Die Obdachlosigkeit. Eine von ihnen ist Nicole M. Sie ist Mitte 40 und lebt seit August 2022 in dem Haus an der Konstablerwache; vorher war sie acht Monate lang auf der Straße. Sie übernachtete in der U-Bahn-Station Eschersheimer Tor, verbrachte ein paar Wochen in einer Unterkunft für drogenabhängige Menschen, sammelte Pfandflaschen, kannte alle Anlaufstellen für Kaffee und eine warme Mahlzeit und sagte sich die ganze Zeit: „Du schaffst das schon. Du kommst da wieder raus.“ Am Anfang habe sie sich eingeredet, das Ganze sei eine Art „Abenteuerurlaub“, aber nach zwei Wochen musste sich die gebürtige Frankfurterin eingestehen, dass dieses Leben mit Kinoromantik à la Crocodile Dundee absolut nichts zu tun hat. Vielmehr gehe es Tag für Tag darum, den Kopf über Wasser zu halten, zu organisieren, auf das eigene Zeug aufzupassen. Und es gehe darum, auf sich selbst zu achten: „Nicht wenige trinken morgens um sieben den ersten Wodka, und natürlich ist es dann eine Versuchung, da mitzumachen. Es legt einen Filter über den Alltag, macht die Ecken rund. Aber ich habe ganz schnell gemerkt, dass das der falsche Weg ist“, erzählt Nicole M. ganz offen. Vielmehr habe sie auch in der Obdachlosigkeit versucht, möglichst gepflegt zu sein: „Das hat mit Selbstwertgefühl und Würde zu tun, und die Menschen begegnen einem auch anders, wenn man ordentlich aussieht.“ Es koste auch so Überwindung genug, vor den Augen zahlloser Passanten auf der Suche nach Pfandgut in einen Mülleimer zu greifen. Als sie bei einem Hotelsperrmüll einen Rollkoffer findet, ist der zusammen mit ihrer Handtasche ein weiterer Schritt in Richtung „Normalität“. „Wenn man mit einem Rollkoffer unterwegs ist, ist man einfach unauffälliger.“ Ein wichtiger Aspekt in dieser Situation: Nicht auffallen, keinen Ärger erregen, sich schützen. Gerade weibliche Obdachlose sind Übergriffen ausgesetzt, quasi Freiwild. Auch Nicole hat entsprechende Erfahrungen gemacht und sagt heute, sie sei insgesamt viel misstrauischer und wachsamer geworden: „Das Schlimmste ist, dass man sich so schutzlos fühlt.“
In Deutschland gelten nach dem aktuellen Bericht der Bundesregierung zur Lage der Wohnungslosen rund 263.000 Menschen als „ohne festen Wohnsitz“, etwa 37.000 leben auf der Straße. Rund zwei Drittel davon sind männlich – „weibliche Obdachlosigkeit“ ist für die Gesellschaft quasi unsichtbar. Warum das so ist, kann die Leiterin von „Hannah – Wohnen für Frauen“, Katrin Mönnighoff-Umstätter, erklären: „In den wenigsten Fällen gehen Frauen direkt auf die Straße, auch weil sie wissen, wie schutzlos sie dort sind. Sie versuchen es zunächst in ihrem eigenen sozialen Netzwerk, schlafen zum Beispiel bei einer Freundin auf der Couch. Leider kehren sie aber auch sehr oft in Beziehungen zurück, in denen sie Unterdrückung, Gewalt und Missbrauch erfahren, um den Schritt in die Obdachlosigkeit nicht gehen zu müssen.“ Tatsächlich verlören nicht wenige Frauen ihre Wohnung durch eine Trennung.
Auch bei Nicole M. spielte das Ende einer Beziehung eine Rolle in dem Weg von der Bürokauffrau mit gutem Job zur Pfandsammlerin ohne festen Wohnsitz: Innerhalb weniger Monate verlor sie ihre gesamte enge Familie, dann machte ihr langjähriger Lebensgefährte Schluss, und schließlich flatterte ihr auch noch die Wohnungskündigung wegen Eigenbedarfs der Vermieter auf den Tisch. Die Suche nach einer neuen, bezahlbaren Wohnung für sich und ihre fünf Katzen erwies sich als aussichtslos, und so blieb ihr im März 2020 zunächst nur der Weg in die Obdachlosenunterkunft – ihre Stubentiger musste sie in die Freiheit entlassen. Corona und die Lebensumstände in der Unterkunft ließen sie „vorübergehend“ zu ihrem Ex-Freund zurückkehren. Aus dieser Übergangsphase wurden zwei Jahre. Zwei Jahre, in denen Nicole M. praktisch unsichtbar wurde: Eine Meldeadresse bei ihrem ehemaligen Lebensgefährten durfte es nicht geben. „Nach zwei Jahren habe ich die Reißleine gezogen; wir hatten laufend Streit, und ich konnte das einfach nicht mehr.“
Ihr erster Weg führte sie damals, im Dezember 2021, zur Bahnhofsmission, danach an diverse Anlaufstellen – hier für eine Dusche, dort für eine warme Mahlzeit oder ein sauberes Bett. Eine Einrichtung wie „Hannah – Wohnen für Frauen“ sei für sie zunächst nicht in Frage gekommen: „Ich wollte erst nicht ins Frauenwohnheim. Ich habe mir ausgemalt, wie dort immer alle zusammen hocken und über ihre Probleme reden. Aber ich war schon immer eine Einzelkämpferin und konnte mir das nicht vorstellen.“ Schließlich aber drückt auch Nicole M. den unscheinbaren Klingelknopf und bekommt zunächst eines der zehn Betten, die im Haus für akute Notfälle zur Verfügung stehen. Auch diese Schlafmöglichkeit ist hier in einem eigenen, abschließbaren Zimmer, Küche, Wohnraum und Bad werden geteilt. Diese Nische für so etwas wie Privatsphäre erschien Nicole M. wie ein Sechser im Lotto: „Ich habe erstmal eine halbe Stunde einfach nur da gesessen und die Stille genossen. Sonst war ich ja immer auf Achse, immer unter Menschen, nie gab es eine Rückzugsmöglichkeit.“ Weiter ging es mit Beratungen durch die Sozialarbeiterinnen der Einrichtung und schließlich ins eigene Appartement bei „Hannah – Wohnen für Frauen“. Mit Unterstützung des Teams kehrt sie peu à peu ins Hier und Jetzt zurück, hat inzwischen wieder Personalausweis und Meldeadresse, ein Bankkonto und in Kürze die erste Qualifizierungsmaßnahme des Jobcenters. Das Beste aber: Nicole M. zieht in ihre eigene Wohnung – 31 Quadratmeter mit Loggia. Für sie das pure Glück: „Ich habe mir die Wohnung gar nicht angeguckt, sondern gleich zugesagt. Ich freue mich so sehr, und ich bin fest entschlossen, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ich weiß, was wichtig ist.“ Am liebsten hätte Nicole M. auch wieder ein Haustier, aber sie ist Realistin genug, um zu wissen, dass sie sich erstmal selbst organisieren muss. Vierbeinern helfen will sie trotzdem und sich im Tierheim ehrenamtlich engagieren: „Damit möchte ich wenigstens ein bisschen wieder gut machen, dass ich damals meine Katzen frei lassen musste“, sagt sie. Dabei steigen ihr die Tränen in die Augen. Das Leben auf der Straße hat vielleicht ihre äußere Schale hart gemacht, aber im Herzen sieht es anders aus.
Hannah – Wohnen für Frauen: Ein geschützter Raum
In dem Übergangswohnheim „Hannah – Wohnen für Frauen“ der Diakonie Frankfurt und Offenbach an der Frankfurter Konstablerwache, gibt es keine männlichen Bewohner. Das hat viele Gründe, erklärt Einrichtungsleitung Katrin Mönnighoff-Umstätter: „Vor allem steht der Schutzaspekt im Vordergrund. Viele Frauen haben Gewalt erlebt und wollen daher einfach nicht in gemischte Unterkünfte.“ Zudem sei der Hilfebedarf bei männlichen und weiblichen Wohnungslosen unterschiedlich: Männer seien häufiger von Alkohol- oder Drogensucht betroffen, Frauen hätten oft psychische Probleme. Um ihnen gerecht zu werden, gehe es darum, sie erstmal zu stabilisieren, langsam mit Beratungen zu beginnen, erst im nächsten Schritt über Job, Geld, Zukunft zu reden. „Wir müssen den Frauen Zeit geben, machen zunächst viel Vertrauensarbeit. Die Frauen öffnen sich erst langsam.“ 21 Appartements (für einen Aufenthalt bis zu zwei Jahren) stehen in der Einrichtung zur Verfügung, hinzu kommen nochmal zehn Notbetten für Frauen in akuten Notlagen. Aufgenommen wird ab 18 Jahren, nach oben sind keine Grenzen gesetzt: „Aktuell ist unsere älteste Bewohnerin 70“, sagt Katrin Mönnighoff. Die Wege zu „Hannah – Wohnen für Frauen“ sind vielfältig: Die Betroffenen erfahren in Beratungsstellen oder Tagestreffs von dem Angebot, es meldet sich ein Krankenhaus bei den Mitarbeiterinnen, oder eine Frau klingelt einfach und sucht Hilfe. Drei Sozialarbeiterinnen in Vollzeit kümmern sich um die Belange der Klientinnen, führen Gespräche, helfen ihnen mit Papieren, auf Ämtern oder bei der Schuldnerberatung. Entscheidend ist, dass die Frauen Unterstützung und Beratung zur Bewältigung ihrer Probleme annehmen und an der Lösung mitarbeiten.