Kostenexplosion in der Eingliederungshilfe
Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Hessen: Bundesteilhabegesetz bringt Akteure in finanzielle Bedrängnis
Bund und Land in Verantwortung
Nach jahrelangem Ringen wurde 2017 das Bundesteilhabegesetz (BTHG) eingeführt, um Menschen mit Behinderungen mehr Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Ziel des Bundesgesetzgebers war unter anderem, den Kostenanstieg in der Eingliederungshilfe zu reduzieren.
Dass die finanziellen Aufwendungen für die Umsetzung dieser grundlegenden Reform nicht kostenneutral umzusetzen waren, war zu Beginn der Diskussion den Beteiligten bereits klar. In Hessen wurden dazu neue Rahmenverträge entwickelt und das Verfahren zur Bedarfsermittlung über den Personenzentrierten Integrierten Teilhabeplan (PiT) eingeführt. Inzwischen ist deutlich geworden: Wie in anderen Bundesländern steigen auch hier die Kosten weiter.
Der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) hat auf seine prekäre Finanzlage hingewiesen und der Liga Hessen einen „Zukunftssicherungsbeitrag“ für alle Leistungserbringer vorgeschlagen. „Ein solcher einseitiger Beitrag würde unweigerlich zu einer Leistungskürzung für die uns anvertrauten Menschen führen. Dies ist für uns nicht hinnehmbar! Die Rechtsansprüche der Menschen mit Behinderungen dürfen nicht angetastet werden und stehen bei unserem Handeln immer im Vordergrund. Die Deckung der Bedarfe ist weiterhin ein hohes Gut. Wir stehen als Liga mit unseren Mitgliedern an der Seite der leistungsberechtigten Personen und vertreten gemeinsam mit den Interessenvertretungen deren Rechte“, betont Carsten Tag, Vorsitzender des Liga-Arbeitskreises „Eingliederungshilfe“.
Eine vom Hessischen Sozialministerium in Auftrag gegebene Studie1 des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) nennt als Hauptgründe für die steigenden Kosten bei der Umsetzung des BTHG:
- Rund 10.000 zusätzliche Leistungsberechtigte im Zeitraum 2016 - 2023 (+ 304 Mio. Euro/Jahr)
- 318 neue Stellen im Planungsverfahren bei den Leistungsträgern (örtlicher Kostenträ-ger und Landeswohlfahrtverband) (+ 95 Mio. Euro)
- Höhere Freibeträge bei Einkommen und Vermögen (+87,5 Mio. Euro)
Die Studie zeigt aber auch, dass die Kosten pro Fall in Hessen seit Einführung des BTHG nicht stärker gestiegen sind als zuvor und sogar niedriger liegen als im bundesweiten Durchschnitt.
„Das BTHG hat zudem die Steuerungsfunktion der Kostenträger gestärkt, was zu komplizierten Verfahren und hohem Verwaltungsaufwand führte. Die Liga hat deshalb Vorschläge zur Vereinfachung und Lösung von systematischen Problemen eingebracht. Wir brauchen weniger Bürokratie – das senkt Kosten, ohne dadurch die Menschen mit Behinderungen zu belasten“, so Carsten Tag abschließend.
Die Liga unterstützt die Forderung des LWV nach einer Beteiligung von Bund und Land an der Finanzierung der Eingliederungshilfe. Gemeinsam mit ihren Mitgliedseinrichtungen steht die Liga Hessen für ein inklusives Hessen und wird die weiteren Gespräche zur Lösung der aktuellen Finanzsituation mit dem Landeswohlfahrtsverband in diesem Sinne weiterführen.
Carsten Tag, Vorstandsvorsitzender Diakonie Hessen:
"Wir setzen uns als Diakonie Hessen dafür ein, dass Menschen mit Behinderung selbstbestimmt leben und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können. Inklusion ist unverzichtbar für ein offenes, demokratisches Miteinander – sie stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und sorgt für soziale Durchlässigkeit. Damit unsere Mitgliedseinrichtungen als Leistungserbringer diese Aufgabe erfüllen können, braucht es eine verlässliche und auskömmliche Finanzierung. Die aktuellen Sparpläne auf Bundesebene wie auch beim Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) gefährden dieses Ziel und erfüllen uns mit großer Sorge. Weitere Kürzungen sind nicht tragbar."
Rita Henning, Bereichsleitung soziale Dienstleistungen, Gesundheit, Sozialpolitik Diakonie Hessen:
"Reformen wie das BTHG brauchen einen langen Atem: Das alte System der Eingliederungshilfe, das nach den Erfahrungen der Euthanasie in der NS-Zeit entwickelt wurde und den Schutz und die Fürsorge von Menschen mit Behinderung zum Hauptziel hatte, ändert sich seit einigen Jahren. Es geht jetzt darum, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung – egal wie schwer sie auch sei - selbst entscheiden können, wie und wo sie wohnen, leben und arbeiten möchten. Wieviel Fürsorge und Schutz notwendig ist, soll der Mensch mit Behinderung – wie wir alle anderen auch – nun selbst bestimmen. Das ist leichter gesagt als getan, denn dazu braucht es Türöffner und Begleiter, die fördern, assistieren und Mut machen. Genau hier setzt doch unser diakonisches Selbstverständnis an. Es kam nicht von ungefähr, dass am Vorläuferprojekt der personenzentrierten Steuerung in Hessen gerade die diakonische Beteiligung enorm war. Denn wir waren und sind überzeugt, dass durch flexible und den persönlichen Bedürfnissen angepasste Unterstützung ein Mehr an selbstbestimmten Leben mitten in der Gesellschaft möglich ist. Ich würde mir von der Politik wünschen, dass der Umsetzung des BTHG in dem Rahmen, für den sich Hessen entschieden hat, doch ein wenig mehr Vertrauen und Zeit gegeben wird.“
Dr. Thorsten Hinz, Vorstand Nieder-Ramstädter Diakonie und Vorsitzender AG Teilhabe Diakonie Hessen:
"Bei allem Verständnis für die schlechte Haushaltslage des LWV: Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist es äußerst riskant, bei Menschen mit Behinderung zu sparen. Sie sind täglich und lebenslang auf Unterstützung angewiesen."
Björn Bätz, Geschäftsführer EVIM gGmbH Geschäftsbereich Teilhabe und AG Teilhabe Diakonie Hessen:
„Die geplanten Änderungen in der Eingliederungshilfe dürfen nicht zu Lasten der fachlichen Arbeit und der Assistenzansprüche Betroffener gehen. Die individuellen Bedarfe von Menschen mit Beeinträchtigung sind gesetzlich abgesichert – und das muss auch so bleiben. Bürokratie und übermäßige Administration dürfen nicht die Teilhabe einschränken, sondern müssen die Unterstützung vor Ort ermöglichen. Teilhabe ist ein Recht, kein Verwaltungsakt.“
Tobias Lauer, Geschäftsführer Regionale Diakonie in Hessen und Nassau gGmbH und AG Teilhabe Diakonie Hessen:
„Mit dem Bundesteilhabegesetz sollte die Selbstbestimmung und Teilhabe gestärkt werden. Stattdessen ist ein System entstanden, in dem Menschen mit Beeinträchtigung ihren Rechtsanspruch auf gesellschaftliche Teilhabe rechtfertigen müssen. Es besteht die Gefahr, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen den Zugang zu Unterstützung verlieren – mit fatalen Folgen für ihre Teilhabechancen. Ein Zukunftssicherungsbeitrag würde letztlich zu Lasten von Menschen mit Beeinträchtigung gehen.“