© privat
Einsamkeit

"Armut belastet Beziehungen"

Einsamkeit ist mehr als ein individuelles Problem. Wir haben mit Einsamkeitsexperte Janosch Schobin gesprochen, warum Einsamkeit so belastet, wie Armut und Einsamkeit zusammenhängen und wie wir aus Einsamkeit herausfinden können.

Armut, Arbeit, Alter - Wie wir einsam werden

Einsamkeit ist mehr als nur ein individuelles Gefühl. Die Forschung zeigt: Einsamkeit macht krank und kann sogar demokratische Prozesse gefährden. Doch was sind die Ursachen? Welche gesellschaftlichen Strukturen begünstigen Einsamkeit und was kann dagegen getan werden? Auf dem kirchenpolitschen Fachtag von Kirche und Diakonie hält der Soziologe Dr. Janosch Schobin einen Impulsvortrag zu den sozialen Aspekten von Einsamkeit. Er ist Teil des Kompetenznetz Einsamkeit, einer Initiative der Bundesregierung im Rahmen ihrer Strategie gegen Einsamkeit. Wir haben mit Janosch Schobin im Vorfeld gesprochen. Im Gespräch gibt uns der 45-jährige Einsamkeitsexperte einen tiefen Einblick. Er erklärt, warum Einsamkeit so belastet, wie Armut und Einsamkeit zusammenhängen und warum es schwer sein kann, aus der Einsamkeit herauszufinden. Dabei wird deutlich: Einsamkeit ist kein Randthema, sondern ein Thema in der Mitte unserer Gesellschaft und eine Herausforderung für Sozialpolitik, Gesundheitswesen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. 

Herr Dr. Schobin, Sie haben vor kurzem das Buch „Zeiten der Einsamkeit“ veröffentlicht und für das Kompetenznetz Einsamkeit den Einsamkeitsbarometer herausgebracht. Sie sind also so etwas wie ein Einsamkeitsexperte. Wie kommt man darauf, sich mit dem Thema Einsamkeit so intensiv zu beschäftigen?

Zum Teil hat das damit zu tun, dass ich lange zu Freundschaften geforscht habe. Da ergab sich das Thema natürlich, weil ich immer wieder auf Menschen gestoßen bin, die keine Freunde haben. Die waren deutlich einsamer im Durchschnitt. Da stellt sich einem die Frage: Wie kommt das eigentlich und wer sind die? Zum Teil ist das aber auch sicher biographisch zu beantworten. Ich bin Kind von Entwicklungshelfern. Das hieß, alle vier Jahre neue Umgebung, neue Kultur, neue Freunde. Da weiß man ganz intuitiv, was Einsamkeit bedeutet.

Was ist Einsamkeit eigentlich?

Einsamkeit ist ein empfundenes Missverhältnis zwischen den Beziehungen, die man hat und denen, die man gerne hätte. Zunächst hat man in der Forschung eher die kognitiven Aspekte der Einsamkeit betrachtet. Das heißt, man ging von einem vor allem gedachten Unglück aus und versuchte von dort zu verstehen: Wie entsteht und verfestigt sich dieser eingetrübte Blick auf die sozialen Beziehungen? Aktuell steht die affektive Perspektive wieder stärker Vordergrund. Also: Wie empfinden die Menschen dieses Missverhältnis? Ist es ein negatives oder positives Gefühl, wenn ich auf meine Beziehungen schaue? Wie reagiert man auf die Empfindung, besonders wenn sie unangenehm ist? In evolutionspsychologischen Ansätzen werden beide Aspekte zudem immer stärker miteinander verbunden betrachtet: Der Mensch ist ein gemeinschaftsorientiertes Wesen. Soziale Interaktivität sichert das Überleben des Einzelnen aber auch der Gruppe. Einsamkeit soll dazu animieren, die soziale Interaktivität zu verstärken, sowohl durch die akute Empfindung als auch durch die kognitiven Prozesse, die diese bedingt.

Eine Mutter, die immer von ihren Kindern umgeben ist, kann es also als positiv wahrnehmen, wenn sie zuhause allein ist; gleichzeitig fühlt sich ein junger Mensch in derselben Situation einsam?

Genau. Einsamkeit wird nicht von allen gleich wahrgenommen. Das Empfinden ist sehr individuell und veränderbar. Man kann auch nicht von rein objektiven Gesichtspunkten aus auf das individuelle Einsamkeitsempfinden schließen. Auch das Bedürfnis Einsamkeit anzugehen, ist bei jedem unterschiedlich, weil die Schwelle, ab der Einsamkeit als belastend empfunden wird, bei jedem unterschiedlich ist. Eine frei gewählte Einsamkeit, die autonome Vereinzelung, wird nicht unbedingt als unangenehm erlebt.

Je länger Menschen in Einsamkeit leben, umso schwerer fällt es ihnen wieder aus dem Gefühl herauszufinden. Man spricht davon, dass sich Einsamkeit chronifiziert. Was ist solch eine chronische Einsamkeit?

Das Wort chronisch ist bei Einsamkeit in der Forschung umstritten. Der Punkt dabei ist, dass die Einsamkeit nicht nur lange anhält, sondern auch dann fortbesteht, wenn die akuten Auslöser der Empfindung weg sind. Aufgrund der Erfahrungen, die ich in Interviews gemacht habe, gehe ich aber davon aus, dass das bei vielen Formen langanhaltender Einsamkeit vorkommt, etwa bei Menschen, die schwere Missbrauchserlebnisse in der Kindheit hatten. Sie sind unfähig ihrem sozialen Umfeld zu vertrauen. Diese Menschen sind nicht unbedingt sozial isoliert, aber sie fühlen sich doch einsam. So habe ich für mein Buch (Anm. d. Redaktion: "Zeiten der Einsamkeit") etwa Menschen in Lateinamerika interviewt, die in Heimen aufgewachsen sind oder in Armenvierteln leben. Bei ihnen habe ich diese Form von Einsamkeit gefunden. Das soziale Leben ist objektiv gut, aber die Einsamkeit ist immer da. Sie ist zu so etwas wie einem Persönlichkeitsmerkmal geworden. Die Forschung spricht aktuell dann auch von „Trait-Einsamkeit“ (Eigenschaftseinsamkeit) im Gegensatz zur „State-Einsamkeit“ (Zustandseinsamkeit). Noch ist nicht klar, wie die Prozesse ablaufen, die in eine chronifizierte Einsamkeit führen.

Und welche Formen von Einsamkeit gibt es noch?

Ein anderes wichtiges Thema ist die Vereinsamung, also wenn nicht nur die Einsamkeit sich verstetigt, sondern auch der soziale Kontakt der Person immer mehr schwindet. Eigentlich sollte Einsamkeit dazu führen, dass man eher in den Kontakt geht und versucht angeschlagene Beziehungen zu kitten. Bei manchen Menschen entsteht jedoch ein Teufelskreis aus sozialer Isolation und Einsamkeit. Sie machen die Erfahrung, dass der Rückzug aus beschädigten sozialen Beziehungen die Lösung für ihre Einsamkeit ist. Sie verstärken ihren Rückzug aus anderen Beziehungen, was dann aber langfristig zu mehr Einsamkeit führt. Ihre soziales Beziehungsnetz erodiert immer mehr.

Welche gesellschaftlichen Faktoren begünstigen Einsamkeit?

Am Ende ist das die Frage: Welche gesellschaftlichen Faktoren begünstigen gute, stabile Beziehungen? Betrachtet man einen Menschen und möchte herausfinden, wie einsam er ist, sollte man sich immer auch fragen, wo potenzielle Auslöseereignisse für Einsamkeit im System eingebaut sind und welche Faktoren die Beziehungen des Menschen belasten. Ein großer gesellschaftlicher Faktor für Einsamkeit ist dabei die Belastung durch Armut und Benachteiligung. Aber auch der Wandel in der Arbeitswelt, das Älterwerden und damit verbundene altersbedingte Erkrankungen sind solche auslösenden Faktoren, die auf den gesellschaftlichen Wandel zurückzuführen sind.

Warum fühlen sich gerade von Armut betroffene Menschen eher einsam?

Armut belastet Beziehungen. Man darf nicht unterschätzen, wie viel Zeit Armut im Alltag gerade in ärmeren Ländern kostet. Man kann sagen, Armut ist dort eine eigene Form von Arbeit und die ist in vielerlei Hinsicht belastend für die gesamte Familie. Eltern, die von Armut betroffen sind, haben nicht nur weniger Zeit für ihre Kinder, da sie sehr damit beschäftigt sind, zu schauen, wie sie das Nötigste zum Leben besorgen. Wo der Sozialstaat schwach ist, geht Armut einher mit einer extremen Steigerung von Aktivität, weil man immer schauen muss, wo kommt das Geld her. Das ist das eine. Dann ist in den Familien viel Konkurrenz um die knappen Ressourcen: Um Nahrung, um Kleidung, um Wohnraum. Da gibt es mehr Streit, mehr Konflikte und mehr Gewalt in den Familien. In solchen Kontexten ist es dann z.B. schwieriger ein Urvertrauen aufzubauen, das vor Einsamkeit schützt. Das gilt alles in allem aber auch in wohlhabenderen Gesellschaften wie der unseren. Hier ist der soziale Stress, den Armut erzeugt, vielleicht weniger extrem. Trotzdem sind Armutsbelastungen bei uns eine der besten Vorhersager für Einsamkeit.

Sie haben auch den Wandel in der Arbeitswelt als verstärkenden Faktor für Einsamkeit genannt. Wie trägt dies zu einem größeren Gefühl von Einsamkeit bei?

Arbeit ist per se sehr positiv. Wer arbeitet, ist eher vor Einsamkeit geschützt. Denn Arbeit ist ein Ort für positive Kontakte und man hat im allgemeinen Geld für Teilhabe. Prekäre Arbeit wie Zeitarbeit hat jedoch etwas Isolierendes. Menschen, die nur auf Zeit engagiert werden, werden meist von der übrigen Arbeitsgemeinschaft nicht so integriert wie Menschen, die dauerhaft in einem Unternehmen bleiben. Das gleiche gilt für eine dynamisierte Arbeitswelt, in der Menschen nur projektweise hinzugezogen werden oder Menschen durch Unternehmensumstrukturierungen immer wieder in neuen Teams zusammenarbeiten müssen. Beide Entwicklungen in der Arbeitswelt sind nicht förderlich für Beziehungen.

Welche Rolle spielt das Alter?

Umbruchsphasen im Leben, wie der Austritt aus der Schule in die Ausbildung oder der Eintritt in die Rente, beinhalten auch immer Einsamkeitsbelastungen. Diese Umbrüche führen zu Umwälzungen in den sozialen Beziehungen und damit zu Einsamkeitsphasen. Dies gilt für alte, aber auch für junge Menschen. Junge Menschen erleben solche Phasen etwa wenn sie ihre Familie verlassen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Dann muss man neue Menschen finden, die das Elternhaus und die emotionale Beziehung zu den Eltern ersetzen. Daneben gibt es in der Jugend psychologische Reifeprozesse, die oft einher gehen mit einem Einsamkeitsgefühl. In dieser Zeit fängt man an, Beziehungen für sich anders zu definieren. Mittlerweile dauert diese typische Einsamkeitsphase in der Jugend immer länger, manchmal bis in die 30er Jahre. Das hängt auch mit den längeren Ausbildungsphasen zusammen. Die Kinder machen mehr Praktika, müssen länger zuhause wohnen, weil Wohnraum immer teurer wird und sie es sich nicht leisten können auszuziehen. Das sieht man in Südeuropa verstärkt, wo die Jugendarbeitslosigkeit hoch ist. Diese strukturelle Veränderung der Jugend hat sich bereits vor Corona abgezeichnet.

In den Medien rücken immer wieder alte und kranke Menschen in den Fokus, wenn es um Einsamkeit geht. Sind denn diese Menschen häufiger von Einsamkeit betroffen als andere?

Erkrankungen wie Demenz oder psychiatrische Erkrankungen beeinträchtigen das soziale Leben sehr. Mit jedem Krankheitsschub verlieren diese Menschen mehr Beziehungen. Menschen mit psychischen Erkrankungen erwähnen immer wieder, wie sehr sie gerade der Verlust von Freundschaften belastet. Hinzu kommt, wie man in der Gesellschaft mit diesen Erkrankungen umgeht. Im hohen Alter nimmt zudem die Sterblichkeit im Umfeld zu. Partner, Freunde sterben, der eigene gesundheitliche Bedarf und das Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit wächst. Diese Umwälzungen gilt es zu verarbeiten. Es zeigt sich jedoch, dass der Einfluss des Alters auf das Empfinden von Einsamkeit im Vergleich zu anderen Faktoren nicht so bedeutend ist. Alter ist nicht so ein Einsamkeitsfaktor wie etwa Armut.

Warum ist das Thema „Einsamkeit“ gerade so präsent?

Einsamkeit ist für die Menschen und ihr Leben, ihren Alltag elementar relevant. Es ist ein primäres soziales Problem in allen Gesellschaften, ganz unabhängig davon, welche Gesellschaft man sich anschaut. Irgendwann in den letzten Jahren hat man erkannt, dass Einsamkeit auch ein großes gesundheitspolitisches Thema ist. Die Sozialpolitik steht unter starkem Kostendruck und so steigt das Interesse an einer sinnvollen, kostengünstigen und effektiven Prävention.

Wie äußert sich Einsamkeit gesundheitlich?

Früher ist man davon ausgegangen, dass Einsamkeit die Folge einer psychischen oder körperlichen Erkrankung ist. Mittlerweile hat man erkannt, dass Einsamkeit der Stressor ist, der die Menschen krank macht und letzten Endes sogar sterben lässt. In der Akutphase ist Einsamkeit sehr unangenehm und belastend. Das kann dazu führen, dass Menschen Ablenkung suchen: Sie versuchen z.B. das unangenehme Gefühl mit schmerzdämpfenden Mitteln wie Alkohol oder Tabletten zu behandeln, was zu Schmerzmittelmissbrauch und Suchterkrankungen beitragen kann. Einsamkeit ist so unangenehm, dass man irgendetwas braucht, um dieses akute Empfinden zu übertünchen – und das ist nicht immer gesund. Das ist einer der Wege, wie Einsamkeit krank macht. Ein anderer ist vermutlich noch direkter: Die Belastung selbst macht krank, in dem sie z.B. das Herz schädigt.

In der Forschung tut sich gerade viel. So wurde in einer Meta-Analyse von Holt-Lunstadt umfassend gezeigt, dass soziale Isolation und Einsamkeit das Sterberisiko signifikant erhöhen – vergleichbar mit bekannten Risikofaktoren wie Rauchen, Bluthochdruck oder Fettleibigkeit. Einsamkeit soll in etwa so schädlich für die Gesundheit sein wie 15 Zigaretten am Tag. Das macht das Thema interessant für eine präventionsorientierte Gesundheitspolitik. In Großbritannien etwa wurde daher 2018 eine hochrangige Stelle eingerichtet, die als Einsamkeitsministerium durch die Presse ging. Das war ziemlich überraschend und hat eine große Dynamik nach sich gezogen. In Deutschland gibt es nicht zuletzt deshalb seit 2021 das Kompetenznetz Einsamkeit und seit 2023 eine Strategie gegen Einsamkeit der Bundesregierung. Insgesamt ist Einsamkeit zu einem Thema geworden, das jede und jeden angeht und wo sich auch die Parteien überlegen, was ihre Position dazu ist.

Warum ist Einsamkeit in unserer Gesellschaft so stigmatisiert?

Wird jemand mit Einsamkeit in Verbindung gebracht, wirkt das auf andere eher abwertend. In Studien unter Studierenden hat man festgestellt, dass die soziale Attraktivität abnimmt, wenn man mit Einsamkeit verbunden wird. Dies trifft besonders auf Menschen im jungen Erwachsenenalter zu. Je älter die Menschen werden, umso mehr nimmt die Stigmatisierung ab. Junge Menschen empfinden Einsamkeit bei uns stärker als Stigma als ältere Menschen.

Wie kommt es, dass Einsamkeit mit Scham besetzt ist?

Es wurde in Deutschland nie mehr so viel über Einsamkeit geschrieben wie in der Nachkriegszeit. Einsamkeit war in Deutschland damals ein großes, aber auch sehr ambivalentes Thema. Die Menschen waren einsam, da sie durch den Krieg Menschen verloren haben, die ihnen nahestanden – durch Tod, aber auch Vertreibung aus ihrer Heimat. Während man anderenorts mit Stolz auf die erbrachten Opfer blicken konnte, war Einsamkeit hierzulande mit dem Stigma des Verbrechervolks etwas, was man heroisch erduldete. Und so entwickelte sich die Einsamkeit zu einem Schweigethema, etwas, was jede und jeder mit sich selbst ausmachen musste. Denn man war sozusagen selbst schuld an der eigenen Einsamkeit. Das hat sich dann in den 1970er und 1980er Jahren zwar losgelöst von dem Kriegstrauma; Einsamkeit wurde aber weiterhin mit einer Selbstverschuldung verknüpft: Jemand ist einsam, weil die Person die eigene Ehe ruiniert hat. Man ist selbst schuld, wenn einen die Kinder nicht mehr anrufen oder besuchen. Man wird zum Autor der eigenen Einsamkeit und diese Verknüpfung normalisiert sich. So ganz falsch ist das zwar nicht, denn man muss auch bereit sein, etwas an seiner Situation zu ändern. Aber in der Zuspitzung ist leicht zu übersehen, dass viele der Faktoren, die Einsamkeit begünstigen strukturell sind, wie Armut etwa.

Wieso haben es Menschen, die von Armut betroffen sind, besonders schwer, aus der Einsamkeit herauszukommen?

Für soziale Beziehungen braucht man Ressourcen. Wer von Armut betroffen ist, hat rein ökonomisch gar nicht die Möglichkeiten am sozialen Leben teilzuhaben – besonders in einer Gesellschaft, in der vieles auf Konsum ausgerichtet ist. Da kann man zwar mit individueller Kreativität immer auch noch was rausholen. Aber auf Dauer ist es nervig, wenn die Freunde essen gehen und ich kann mir das nicht leisten. Zwar kann der Freundeskreis auch mal jemanden einladen oder sie können im Park grillen gehen, aber das geht auch nicht immer. Um sozial teilhaben zu können, brauchen diese Menschen eine finanzielle Grundausstattung. Ohne Geld ziehen sie sich zurück, wenn sie arbeitslos sind. Doch um Arbeit zu finden, ist tendenziell der Kontakt mit anderen Menschen, die in Arbeit sind, sehr wichtig.

Mehr als die Hälfte aller Jobs wird über informelle Arbeitsmärkte gefunden und man sollte eigentlich strategisch darüber nachdenken, wie man dafür sorgt, dass arbeitslose Menschen möglichst viel in Kontakt mit Menschen sind, die arbeiten. Doch noch immer wird darauf geschaut, ob nicht die finanzielle Unterstützung zu hoch sei, wenn die Menschen ohne Arbeit noch in ein Restaurant gehen können. Die sinnvollste Investition wäre doch zu schauen, wie bekomme ich jemanden, der arbeitslos ist, in mindestens drei Vereine wie Kanuverein, Fußballclub etc., in denen Leute sind, die nicht arbeitslos sind.

Was müsste sich in Deutschland ändern, damit Menschen weniger einsam sind?

Es muss klar werden, dass Einsamkeit die Genesung behindert. Soziale Bedürfnisse sind damit kein „nettes Extra“, sondern medizinisch relevant. Hier ist ein grundsätzliches Umdenken nötig. In Deutschland haben wir mit dem Sozialgesetzbuch noch immer eine starke Versäulung der unterschiedlichen Systeme. Doch wir brauchen viel mehr Querverbindungen dazwischen. Schulen beispielsweise können nicht nur Bildung vermitteln, sondern auch, wenn man es geschickt anstellt, Quartierszentren sein, in denen junge mit alten Menschen, Deutsche mit Migrant*innen usw. zusammenkommen. Ähnlich ist es im Gesundheits- und Pflegesystem. So fehlt den Pflegediensten schlicht die Zeit, die zu pflegende Person mit einem ehrenamtlichen Angebot zu vernetzen, was sie aus der Einsamkeit ziehen könnte. Dies ist im Abrechnungssystem der ambulanten Pflege nicht vorgesehen. So wird schließlich keine Brückenarbeit geleistet zu einem ehrenamtlichen Angebot, das wichtig wäre, damit der Zustand der zu pflegenden Person sich nicht weiter verschlimmert.

Wie kann jeder selbst gegen Einsamkeit vorgehen?

Wer es geschafft hat zu erkennen, dass man etwas gegen die eigene Einsamkeit tun muss, ist schon einmal auf einem guten Weg. Was gut gegen Einsamkeit schützt, sind soziale Beziehungen wie Freunde und Partnerschaften. Besonders Menschen, die Beziehungen frei wählen und zudem stabile Beziehungen pflegen können, sind weniger von Einsamkeit betroffen. Alles, was gute soziale Beziehungen ermöglicht, hilft damit gegen Einsamkeit. Ein primärer Faktor ist dabei die Zeit, denn Menschen brauchen Zeit für Beziehungen. Das ist in den unterschiedlichen Lebensaltern zwar auch sehr verschieden, aber da stehen wir in Deutschland eigentlich ganz gut da.

Was würden Sie also einem alten Menschen raten, der einsam ist?

Am besten ist es, wenn diese Person selbst sagen kann, woran es liegt, dass sie sich einsam fühlt. Ist vielleicht die beste Freundin gestorben oder der Partner? Bis zu einem gewissen Punkt muss man vielleicht akzeptieren, dass diese Lücke nicht gefüllt werden kann – gerade, wenn Menschen gestorben sind, die einem nahe standen. Dann bleibt die Einsamkeit in gewisser Weise, weil diese Menschen nicht ersetzbar sind. Aber man kann neue Beziehungen knüpfen. Da hilft es, sich unter den existierenden Beziehungen umzuschauen, sein Netzwerk zu aktivieren: Welche Beziehung könnte ich aufwerten? Kann ich über mein Freundschaftsnetzwerk neue Freundschaften finden? Das kann man gut selbst machen, wenn man noch mobil ist und sich noch nicht zu weit zurückgezogen hat.

Was ist, wenn man kein eigenes Netzwerk mehr hat? Wie finde ich Angebote, die für mich passen und aus der Einsamkeit ziehen?

Wenn man kein eigenes Netzwerk mehr hat, ist man auf soziale Angebote wie Vereine angewiesen, in denen man Freunde, neue Beziehungen finden kann. Da muss man sich dann informieren: Welche Angebote gibt es im Umfeld? Oft gibt es zwar Möglichkeiten, aber wie findet man das, was für einen passt? Manchmal kann auch eine Hotline wie „Silbernetz“ weiterhelfen. Die Telefonberater*innen hören einem zu, zeigen Wege auf und verweisen weiter. In Deutschland ist das Angebot leider sehr unübersichtlich. Es gibt so unglaublich verschiedene lokale Aktivitäten, die kommen und gehen.

Und wenn ich dann solch ein Angebot gefunden habe?

Häufig gibt es dann immer noch das Problem, dass die eigene Wahrnehmung eingetrübt ist. Das heißt, der einsame Mensch denkt, dass einen in einer neuen Gruppe sowieso alle nicht interessant finden. Oder dass die Gruppe schon voll ist und man nicht mehr reinpasst. Aber auch da kann man sich Hilfe holen. Manche Dienste vermitteln auch so genannte „Sozialpaten“, die einsame Menschen in ein Angebot hineinbegleiten und „Brücken bauen“. Das ist besonders bei stark vereinsamten Menschen wichtig.

Inwiefern kann soziales Engagement ein Weg aus der Einsamkeit sein?

Vom Prinzip her kann soziales Engagement bei Einsamkeit helfen. Es trägt dazu bei, die geistigen Funktionen aufrecht zu erhalten und Kontakte zu knüpfen. Das Problem ist eher, dass die Leute, die einsam sind, weniger ins Engagement gehen, weil sie nicht erreicht werden, sich nicht motivieren können. Es braucht allgemein bessere Strategien, um einsame Menschen und – ganz besonders – um vereinsamte Menschen zu erreichen.

Wann haben Sie sich zuletzt einsam gefühlt?

Gute Frage. Da muss ich jetzt mal nachdenken. Ich habe schon länger keine starke Einsamkeit mehr erlebt. Schlimm war es zuletzt im jungen Erwachsenenalter, als ich nach dem Abitur aus Chile nach Deutschland zurückgekehrt bin. Da hatte ich eine unangenehme Leerlaufphase, weil ich vor meinem Studium noch meinen Zivildienst antreten wollte. Aber ich war gar nicht für den Wehrdienst erfasst. Es hat elf Monate gedauert, bis man mich erfasst hatte und ich wusste, wie es weiter geht. In dieser Zeit war ich nicht im Zivildienst, nicht in der Schule und habe bis auf Gelegenheitsjobs auch nicht richtig gearbeitet. Ich hatte keine natürlichen Anknüpfungspunkte für Freundschaften. Da ich aus dem Ausland kam, hatte ich hier kaum Kontakte.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Yvonne Burger, Referentin Kommunikation, Diakonie Hessen

Über PD Dr. Janosch Schobin

Janosch Schobin (Jahrgang 1981) ist Soziologe mit Schwerpunkten in der Soziologie der Freundschaft, Familie, Arbeit und Ernährung sowie Einsamkeitsforschung. Schobin ist Privatdozent an der Universität Kassel und forscht an der Universität Göttingen als Mitarbeiter eines Projekts des Bundesministeriums für Forschung, Technologie und Raumfahrt zu den Auswirkungen des menschgemachten Klimawandels auf die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen. Außerdem ist er über das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt/Main Teil des Kompetenznetz Einsamkeit, das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird. Das Netzwerk setzt sich u.a. mit den Ursachen und Folgen von Einsamkeit auseinander.

Diese Seite empfehlen