Am 12. Mai verabschiedete das Kabinett den 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Seit 2001 legt die Bundesregierung mit damit in jeder Legislaturperiode eine Bestandsaufnahme der sozialen Lage in Deutschland vor. Die Berichte informieren über das Ausmaß von Armut sowie die (Ungleich)Verteilung von Einkommen, Vermögen und Aufstiegschancen im Land.
Potential zur Aufdeckung von Ungleichheit bleibt teilweise ungenutzt
Zum ersten Mal legt der Bericht mit der Darstellung der Situation von Hochvermögenden sowie der mehrdimensionalen Langzeitanalyse sozialer Lagen einen stärkeren Fokus auf das gesamte Spektrum der Verteilungslagen sowie auf multiple Formen von Benachteiligung und deren Entwicklung im Zeitverlauf. „Wir begrüßen, dass der diesjährige Bericht neben der Armut auch dem Reichtum größere Aufmerksamkeit schenkt und somit Zusammenhänge zwischen beiden potentiell sichtbarer gemacht werden könnten. Außerdem macht der Bericht die zunehmende Verfestigung von Armut im Zeitverlauf deutlicher“, hebt Dr. Melanie Hartmann, Referentin für Armutspolitik bei der Diakonie Hessen, positiv hervor. Dass dieses Potential zur Aufdeckung von Ungleichheit jedoch nicht voll ausgeschöpft werde, liege unter anderem an den Begrifflichkeiten und den gewählten Einkommens- und Vermögensgrenzen. „Dass beispielsweise die oberste der acht identifizierten sozialen Lagen statt mit „Reichtum“ mit „Wohlhabenheit“ umschrieben wird, verschleiert den tatsächlichen Reichtum am oberen Ende des Spektrums. Dass von Einkommens-Wohlhabenheit bereits ab einem Nettoeinkommen von knapp 4000 Euro die Rede ist und darunter ebenso Einkommen im sechs- oder siebenstelligen Bereich fallen, verdeckt das wirkliche Ausmaß der Einkommensungleichheit im Land“, kritisiert Hartmann. Die veröffentlichte Zusammenfassung des Berichts widerspreche zudem teilweise der Langfassung: „Hier werden Daten, die eindeutig eine Verfestigung von Armutslagen nahelegen, beschönigend dargestellt und strukturelle Zusammenhänge zwischen Armut und Reichtum verschleiert“, konkretisiert Hartmann.
Armut verfestigt sich, Polarisierung schreitet fort
Immerhin macht eine genaue Lektüre der Langfassung des Berichts deutlich: die Polarisierung der sozialen Lagen schreitet fort, Vermögen und Möglichkeiten sozialer Mobilität sind zunehmend ungleich verteilt. Im obersten Zehntel der Haushalte standen nach den Zahlen des Sozioökonomischen Panels (SOEP 2017) 59,1 Prozent der Nettovermögen zur Verfügung, 2002 waren es noch 55,7 Prozent. Laut einer ebenfalls im Bericht aufgeführten Datenlage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) beträgt der Anteil der oberen zehn Prozent der Haushalte am Gesamtvermögen sogar 64 Prozent. Die Haushalte in der ärmeren Hälfte der Bevölkerung besitzen zusammen gerade einmal 2,5 Prozent der Vermögen (SOEP 2017). „Obwohl Einkommen und Wohlstand im Berichtszeitraum gesamtgesellschaftlich zugenommen haben, galt dies gerade für die Menschen mit den niedrigsten Einkommen und Vermögensanteilen nicht. Der gesellschaftliche Wohlstand erreicht eben nicht alle, übrigens auch in Hessen nicht.“, gibt Carsten Tag, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Hessen, zu Bedenken.
„Was wir besonders besorgniserregend finden, ist die Tatsache, dass es aus Armut offensichtlich kaum Entrinnen gibt. In der Langzeitbetrachtung verbleibt ein Großteil der am stärksten betroffenen Haushalte in Armut, hier gibt es kaum Aufwärtsmobilität“, stellt Carsten Tag fest. Hier würden insbesondere auch Kinder und Jugendliche aus armen Haushalten systematisch benachteiligt: „Kinder, die in Armut aufwachsen, sind häufig auch im Erwachsenenalter arm“, so der Vorstandsvorsitzende.
Zur sozialen Polarisierung trägt zudem bei, dass unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich stark von Armut betroffen sind: Während die Armutsrisikoquote, also der Anteil der Personen mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von unter 60 Prozent des Einkommensmedians, laut den Daten des SOEP (2017) bei 16,1 Prozent liegt, haben Alleinerziehende mit 36,8 Prozent oder Menschen mit Migrationsgeschichte mit 28,2 Prozent ein deutlich überdurchschnittliches Armutsrisiko. Auch für Frauen ist die Armutsgefährdung insgesamt höher als für Männer. „Eine solche Schieflage können wir uns als wohlhabende Gesellschaft nicht leisten. Hier ist politisches Nachjustieren erforderlich: In der Wohnungspolitik, in der Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit, der Förderung von Teilhabemöglichkeiten und dem Abbau von rassistischen Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt sowie in der Stärkung von Familien, z.B. durch die Einführung einer Kindergrundsicherung und den Aufbau von Armutspräventionsketten“, zählt Melanie Hartmann einige politische Handlungsfelder zur Armutsbekämpfung auf.