Verbände zur Kompression anlegen, Medikamente reichen, Wunden versorgen oder den Menschen bei der Körperpflege helfen: Das gehört seit mehr als 20 Jahren zu den täglichen Aufgaben der Pflegefachkraft Tanja Henrich. Seit einem Jahr kommen auf die Mitarbeiterin der Diakoniestation Offenbach bei ihrem ambulanten Dienst enorme weitere Anforderungen hinzu: „Wenn ich die Menschen aufsuche, höre ich ihre großen Sorgen und Nöte.“ Denn bei den in der Pandemie notwendigen Kontaktbeschränkungen ist Tanja Henrich oft die einzige Ansprechpartnerin und Bezugsperson für die erkrankten und pflegebedürftigen Menschen.
Soll die anstehende Operation aus Angst vor einer Infektion mit dem Corona-Virus verschoben werden? Schadet mir die Impfung aufgrund meiner Vorerkrankung? Wer besorgt mir meine Medikamente und Einkäufe, wenn ich das Haus nicht verlassen möchte? Es sind solche dringenden Anliegen, die pflegebedürftige Menschen belasten. Neben den psychischen Beeinträchtigungen fangen die Pflegekräfte derzeit außerdem die körperlichen Folgen der Pandemie auf. „Die Menschen sind kaum noch mobil, es kommt daher vermehrt zu Stürzen oder Thrombosen, zudem bleiben viele Erkrankungen unbehandelt aus Angst vor einer Infektion in Arztpraxen und Krankenhäusern“, berichtet Martina Desch, geschäftsführende Leiterin der Diakoniestation in Offenbach.
Mit diesen Folgen der Pandemie sind seit einem Jahr alle Mitarbeitenden aus den insgesamt 135 ambulanten Pflegediensten von Diakonie und evangelischer Kirche in Hessen konfrontiert. Zwischen zehn und zweihundert Pflegerinnen und Pfleger sind jeweils in diesen Diensten beschäftigt. „Sie alle fangen die Misere in der ambulanten Pflege auf, die sich jetzt verstärkt bemerkbar macht“, sagt Martina Desch.
Zu wenig fachlich qualifiziertes Personal, viele gewünschte Leistungen der zu pflegenden Menschen, die nicht refinanziert werden, und ein daraus resultierender Zeitdruck: Das sei seit vielen Jahren die Arbeitssituation in der ambulanten Pflege. „Die Pandemie ist nun ein Brennglas, das aus der glimmenden Schieflage in der Pflege ein Feuer entfacht“, meint Pflegedienstleiterin Martina Desch. Doch hindurch schauen möge durch dieses Glas kaum jemand: „Wir baden das aus, arbeiten am Anschlag und fühlen uns von der Politik im Stich gelassen.“
Das gelte auch für die derzeitige Impfstrategie, ergänzt Dagmar Jung, Leiterin der Abteilung Gesundheit, Alter und Pflege der Diakonie Hessen. „Trotz höchster Priorisierung fühlten sich die Mitarbeitenden der ambulanten Dienste als Impflinge zweiter Klasse und mussten lange auf ihr Vakzin warten“, berichtet sie. „Und das ist ein wirklich schlechtes Signal und bisher das letzte i-Tüpfelchen an Missachtung der ambulanten Hochleistungen.“
Klatschen alleine reiche daher nicht aus, betont Carsten Tag, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Hessen. Während im Frühjahr 2020 die Beschäftigten in der Pflege bejubelt worden seien, werde ihr herausragendes berufliches Engagement für pflegebedürftige Menschen von vielen wieder als selbstverständlich betrachtet. Aber nicht nur das: „Die vielfältigen neuen und zusätzlichen Vorgaben und Regeln, aber auch die nachvollziehbaren Erwartungen von Angehörigen, Öffentlichkeit und Politik machen die Pflegearbeit derzeit extrem kräftezehrend“, sagt Carsten Tag. Als Landesverband setze sich die Diakonie Hessen daher energisch für bessere Rahmenbedingungen in der Pflege ein: „Wir arbeiten intensiv mit an einer echten und vollständigen Reform der Pflegeversicherung und ihrer Finanzierung.“ Denn nur so ließen sich die Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern.
Und diese Bedingungen sind aufgrund der Pandemie extrem beschwerlich geworden. „Die Mitarbeitenden arbeiten natürlich mit FFP2-Masken, das ist beim Arbeiten in geräumigen Klinikzimmern auch kein sehr großes Problem“, sagt Ulrike Goldmann, Referentin für stationäre Pflege und Qualitätssicherung der Diakonie Hessen. Anders sei das jedoch in häuslichen Badezimmern: „Werden die Masken auf engem, beheiztem Raum in feuchter Luft getragen, führt das zu Kopfschmerzen und Hautirritationen.“ Hinzu käme die Sorge, die Kundinnen und Kunden unbemerkt mit dem Virus zu infizieren: „Die Mitarbeitenden haben daher ihre eigenen Kontakte extrem eingeschränkt, ein Privatleben führen sie seit einem Jahr nicht mehr.“
Es gebe Kolleginnen, die aus Angst vor einer Infektion abends nicht mit ihren schulpflichtigen Kindern zusammen im Wohnzimmer säßen, berichtet die Offenbacher Pflegefachkraft Tanja Henrich. Sie selbst versorgt zu Hause ihre dementiell erkrankte Mutter, andere aus ihrem Team sind alleinziehend und stemmen neben dem Beruf die Betreuung und das Homeschooling der Kinder. Eine doppelte Beanspruchung für alle Beteiligten.
„Momentan empfinden wir alle eine massive Belastung, die sich überhaupt nicht ausschalten lässt“, sagt Tanja Henrich. Runterfahren und entspannen seien nicht möglich, bestätigt Pflegedienstleiterin Martina Desch. Denn auf sie und ihr Team kommen stetig neue Verfügungen und Gefährdungsbeurteilungen hinzu, ebenso die Hilfe bei den Gutachten für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen. „Der Dienst kommt aus Schutzgründen nicht mehr in die Wohnungen, um die Einordnung in die Pflegegrade vorzunehmen – beim Ausfüllen der komplexen Formulare helfen wir daher den Patientinnen und Patienten.“
Nächstenliebe und Teamgeist. das seien die Faktoren, die derzeit die häusliche Pflege aufrechterhielten, ergänzt die Pflegedienstleiterin. „Die Mitarbeitenden stehen hinter dem Ziel der Diakoniestation, dass pflegebedürftige Menschen trotz ihrer Einschränkungen, so lange wie möglich in ihrem vertrauten Umfeld bleiben können.“ Zum Glück gebe es mit der Diakonie eine Lobby für die Pflege: „Unsere Fachabteilungen und die Vorstände bohren immer wieder nach und melden sich kontinuierlich mit unseren Belangen zu Wort.“
Links:
Pflegedienst Diakoniestation Offenbach:
http://www.diakoniestation-offenbach.de
Brief des Diakonie Hessen-Vorstands Carsten Tag:
http://www.diakonie-hessen.de/fileadmin/Dateien/AAA_DiakonieHessen/Files/Presse/Brief_an_die_Pflegen
Diakonie Hessen fordert Solidarität und Anerkennung:
https://www.diakonie-hessen.de/info/aktuelles-detailseite/klatschen-war-gestern/
Forderung des Diakonie-Präsidenten Ulrich Lilie:
https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Diakonie-Praesident-Lilie-Es-muss-mehr-Geld-ins-System-id58811001.html