Hintergrund der Diskussion ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2020 zum § 217 des Strafgesetzbuchs (StGB). Nachdem das Verfassungsgericht dieses Gesetz "gekippt“ hat, ist der Gesetzgeber nun gefordert, eine Neuregelung zu schaffen. Das Gericht hat geurteilt, dass jeder entscheidungsfähige Erwachsene grundsätzlich das Recht hat, freiverantwortlich Suizid zu begehen und dafür die Hilfe von Dritten in Anspruch zu nehmen. Zugleich hat es aber auch die besondere Bedeutung der Suizidprävention betont und den Gesetzgeber darauf hingewiesen, dass in der gesetzlichen Neuregelung auch besondere Anforderungen verankert werden können, um bspw. zu prüfen, ob der Suizidwunsch freiverantwortlich und ohne Druck von außen erfolgt.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfordert auch Positionierungen der evangelischen Kirche und der Diakonie – und ebenso die Diskussion innerhalb von Kirche und Diakonie darüber, wie im Rahmen christlicher Einrichtungen der freie Wille von Menschen auch in einer solchen Grenzsituation zu respektieren ist.
Zu dieser Diskussion haben der Vorsitzende der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD, Prof. Dr. Rainer Anselm, die praktische Theologin Prof. Dr. Isolde Karle sowie Ulrich Lilie, der Präsident der Diakonie Deutschland, einen Meinungsbeitrag geleistet, der am 11. Januar 2021 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlicht worden ist. An dem Diskussionsprozess, der zu dem Papier führte, hatten sich auch Landesbischof Ralf Meister (Hannover), EKD-Ratsmitglied Prof. Dr. Jacob Joussen sowie der Palliativmediziner Prof. Dr. med. Friedemann Nauck beteiligt.
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie unterstreicht die Notwendigkeit, dass über die wichtige ethische Frage des assistierten Suizids eine offene Debatte geführt werden müsse. „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erfordert von uns, bisherige Positionen zu überdenken“, sagt Lilie. „Man kann in der ethisch schwierigen Frage des assistierten Suizids zu unterschiedlichen Urteilen kommen. Die Auffassung unseres Autorenteams ist eine von mehreren denkbaren Positionen.“
Für die Autoren ist grundlegend, dass zunächst alle Formen der Begleitung einschließlich bestmöglicher palliativer Versorgung ausgeschöpft werden müssen, damit Menschen gar nicht erst an den Punkt gelangen, über eine eigenständige Beendigung ihres Lebens entscheiden zu müssen. Sollten Patienten mit schwerer Erkrankung oder begründeter Sorge vor einem qualvollen Tod nach hinreichender Beratung und Reflektion aber zu dieser Position finden, dürfe man sie nicht allein lassen. „Wir begleiten wirklich alle“, sagt der Diakonie-Präsident.
Es sei nur schwer vorstellbar, dass Menschen für die letzten Stunden ihres Lebens eine diakonische Einrichtung verlassen müssten, um anderswo selbstbestimmt zu sterben, sagt Lilie. “Es wäre wirklich schmerzhaft, wenn wir Menschen zum Sterben aus unseren Einrichtungen wegschicken müssten.“
„Wir müssen als Diakonie auch unseren öffentlichen Versorgungsauftrag wahrnehmen“, ergänzt Lilie Die Diakonie sei ebenso wie die evangelische Kirche gefordert, der neuen rechtlichen Realität ins Auge zu sehen, die das höchste deutsche Gericht mit seinem Urteil geschaffen habe.
Der Diakonie-Präsident sagt: „Wir sind am Beginn eines notwendigen Diskussionsprozesses, den wir mit Augenmaß und gegenseitigem Respekt führen müssen.“ Die Debatte sollte fair, sachlich und in der Perspektive unserer evangelischen Werte geführt werden: Humanität und Nächstenliebe, Achtung der Selbstbestimmung und ein sorgsamer Umgang mit dem Geschenk des Lebens sind dafür leitend.“
Ausgewählte Beiträge
Beitrag auf der Webseite der EKHN
Interview mit Diakoniepräsident Ulrich Lilie