Das Institut für Medizinsoziologie der Uni Köln veröffentlicht Ergebnisse ihrer Umfrage Pflegerische Versorgung in Zeiten von Corona - Drohender Systemkollaps oder normaler Wahnsinn? Wissenschaftliche Studie zu Herausforderungen und Belastungen aus der Sichtweise von Leitungskräften
Auf Grundlage einer Online-Befragung unter Leitungskräften greift die Studie die Herausforderungen und Belastungen für Pflegekräfte in Zeiten der COVID-19/SARS-CoV-2-Pandemie auf. Zudem fragt die Studie nach Strategien und Maßnahmen zur Bekämpfung der generellen und pandemiebedingten Herausforderungen und Belastungen.
Von insgesamt 4.333 angeschriebenen Pflegeeinrichtungen lieferten im Zeitraum vom 7. April bis 25. April 2020 525 Leitungspersonen vollständige Angaben. Davon arbeiten 20% in einer stationären Einrichtung, 3,1% in einem Hospiz, 65% in einer ambulanten Einrichtung, 2,9% in einer Einrichtung zum betreuten Wohnen und 4,6% in einer sonstigen Einrichtungsform (insbesondere teilstationäre Einrichtung). Betrachtet man die Verteilung der teilnehmenden Leitungskräfte nach Bundesländern sind stationäre Pflegeeinrichtungen aus Hessen überrepräsentiert, Baden-Württemberg und Thüringen mit Bezug auf stationäre Pflegeeinrichtungen unterrepräsentiert. (vgl. S. 5 ff.)
Damit ist die Studie ist nicht repräsentativ. Sie liefert dennoch interessante Einblicke in die besondere Situation der Pflege.
Die Autor*innen (Kira Isabel Hower, Timo-Kolja Pförtner und Holger Pfaff) fassen die Ergebnisse ihrer Studie wie folgt zusammen (S. 37f.):
"1. „Normaler Wahnsinn“ verstärkt durch Corona: Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass sich das pflegerische Versorgungssystem in Deutschland bereits vor Ausbruch der SARS-CoV-2- Pandemie an der Belastungsgrenze befand. Sie zeigen aber auch, dass durch die Corona-Pandemie ein zusätzlicher Anstieg der Herausforderungen und Belastungen zu verzeichnen ist.
2. Beschaffung von Infektionsschutz ist ein zentrales Problem und wird kreativ, aber nicht systematisch gelöst: Die Beschaffung und der Verbrauch von Schutzausrüstung, die Einhaltung von Hygienevorschriften, die Widersprüchlichkeit und Intransparenz arbeitswichtiger Informationen und Einnahmeausfälle zählen zu den starken Herausforderungen und Belastungen und resultieren in einer Arbeitsverdichtung.
3. Die Sorge um das Wohlbefinden der Pflegebedürftigen und Mitarbeiter*innen zählt zu den größten Herausforderungen und Belastungen: Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden der Pflegebedürftigen und vor allem demenziell erkrankten Menschen seien laut der Leitungskräfte bereits sichtbar. Für die Risikogruppe Pflegebedürftiger, mit oftmals limitierter verbleibender Lebenszeit, gäbe es kaum eine Perspektive. Die Sorge vor der Infektion eines*r Mitarbeiters*in resultiert besonders aus den drohenden Konsequenzen, z. B. der Schließung einer Einrichtung.
4. Wenn-Dann-Unsicherheiten: Große Unsicherheit herrscht darüber, was bei COVID-Infektionen für Maßnahmen zu treffen sind und welche Konsequenzen (z. B. Schließung des Dienstes) drohen. Ohne finanzielle Unterstützung sind die Konsequenzen vor allem für kleinere und private Einrichtungen kaum zu tragen.
5. Schlechterer Gesundheitszustand der Leitungskräfte, aber sie kommen dennoch zur Arbeit: Das Wohlbefinden der befragten Leitungskräfte hat sich den Einschätzungen zufolge im Zuge der Pandemie um 7,5% verschlechtert. Ebenso erschienen sie nach eigenen Angaben um durchschnittlich 20% häufiger als vor Ausbruch der Pandemie krank bei der Arbeit. Gründe hierfür werden in der pandemiebedingten Mehrbelastung vermutet, die vor allem durch die Leitungen aufgefangen werden müsse.
6. Individuelle und organisationale Gratifikationskrise: Deutlich wird, dass sowohl Arbeitsverdichtungen als auch Überlastungszustände bereits vor der Pandemie bestanden und generell in einem Missverhältnis zu der wahrgenommen mangelnden gesellschaftlichen sowie finanziellen Anerkennung stehen. Anstelle von einer als kurzeitig wahrgenommen Anerkennung in Form von Applaus, wird eine leistungsgerechte Vergütung und eine reelle Refinanzierung von Aufwendungen - generell, aber besonders im Zuge der Mehraufwände durch die Corona Situation, gefordert.
7. Organisationale Coping-Kapazität wird hoch eingeschätzt (Bewältigungsoptimismus): Trotz der vielschichtigen Auswirkungen der Pandemie glauben rund 62% der Befragten, die damit verbundenen Herausforderungen und Belastungen bewältigen zu können. Dies lässt darauf schließen, dass Pflegeeinrichtungen im Notstand erprobt und dadurch widerstandfähig sind.
8. Finanzielle Hilfen sind hilfreich, aber nicht leicht zu haben: Ein Großteil der Befragten berichtet, finanzielle Hilfsmittel in Anspruch genommen zu haben, um Einnahmeausfälle und Mehrausgaben auszugleichen. Die Meinungen über die Abdeckung, Beantragung, Bürokratie und Gerechtigkeit von Hilfsangeboten wie dem Pflegerettungsschirm sind gespalten.
9. Individuelle Bewältigungsstrategien dominieren: Bei der Bewältigung der Krise ist erkennbar, dass einrichtungsinterne strukturelle Lösungsmaßnahmen im Vordergrund stehen. Diese müssten aufgrund sich dynamisch ändernder interner und äußerer Rahmenbedingungen, Entwicklungen und Vorschriften permanent überprüft und angepasst werden.
10. Kommunikation als Führungsinstrument in der Krise: Um die psychischen und physischen Auswirkungen für Mitarbeitende, Pflegebedürftige und Angehörige gering zu halten, zeigten sich eine ständige Kommunikationsbereitschaft, Informierung und Aufklärung seitens der Leitungskräfte als zusätzliche Bewältigungsstrategie.
11. Sozialer Zusammenhalt als Schlüsselfaktor für die Krisenbewältigung: Die Befragungsergebnisse verdeutlichen, dass der soziale Zusammenhalt eine der stärksten Ressourcen zur Bewältigung herausfordernder und belastender Situation ist. In Anbetracht generell knapper finanzieller, materieller und personeller Ressourcen, erschienen soziales Miteinander, emotionale Unterstützung und gegenseitiger Verlass an Bedeutung zu gewinnen."